Dass die Fluginsekten schwinden, wurde dank Erhebungen ehrenamtlicher Forscher bekannt.
Foto: Naturhistorisches Museum Wien

Es war eine der einflussreichsten wissenschaftlichen Studien, die in den vergangenen Jahren erschienen sind: Ein niederländisch-deutsches Wissenschafterteam konnte 2017 im Fachblatt PLOS One zeigen, dass es in 63 deutschen Naturschutzgebieten in und um Nordrhein-Westfalen zwischen 1989 und 2016 zu einem mehr als 75-prozentigen Rückgang bei den Fluginsekten gekommen war.

Mit einem Schlag wurde der Begriff Insektensterben zum großen Medienthema. Seitdem sind etliche weitere wissenschaftliche Untersuchungen erschienen, die diese dramatischen Befunde im Wesentlichen bestätigten. Und zahlreiche neue Initiativen setzen sich seither dafür ein, den Lebensraum für Insekten besser zu schützen.

Was in der Berichterstattung oftmals nicht erwähnt wurde: Die Datengrundlage für diese Studie stammt nicht nur von professionellen Wissenschaftern, die an einer Universität oder einer anderen Forschungseinrichtung tätig sind, sondern vor allem von einigen der aktuell rund 50 ehrenamtlich tätigen Mitglieder des Entomologischen Vereins Krefeld.

Ehrendoktor ohne Abitur

Den Verein gibt es seit 115 Jahren, und nur ein Teil seiner Mitarbeiter sind studierte Zoologen; viele haben keinen akademischen Abschluss. Der langjährige Vereinsobmann Siegfried Cymorek hatte nicht einmal das Abitur. Dennoch wurde er mit seiner Leidenschaft für Käfer einer der weltweit führenden Spezialisten für holzzerstörende Insekten und erhielt dafür sogar ein Ehrendoktorat der ETH Zürich.

Diese Studie über das Insektensterben zeigt, dass auch heute wissenschaftliche Amateure – der Begriff leitet sich vom lateinischen Begriff für Liebhaber ab – einen wichtigen Beitrag zur Forschung leisten können. Gerade im Bereich der Biodiversitätsforschung sind sie seit vielen Jahrzehnten in verschiedener Weise in Untersuchungen eingebunden. Allein in Österreich gibt es rund zwei Dutzend Projekte, die wichtige Beiträge zur Erfassung der heimischen Flora und Fauna liefern – egal ob es sich im konkreten Fall um Vögel, Insekten, Pilze oder Bäume handelt.

Seit einigen Jahren hat sich dafür auch im deutschsprachigen Raum eine relativ neue Bezeichnung durchgesetzt: Citizen Science. Der Begriff, der zunächst in den USA und Großbritannien in den 1990er-Jahren aufkam, meint die Beteiligung interessierter Bürgerinnen und Bürger an Forschungsprojekten. Einen wesentlichen Anschub erhielt Citizen Science durch die neuen Möglichkeiten, die Smartphones, Apps und das Internet mittlerweile bieten und die eine Einbindung von Nichtwissenschaftern wesentlich erleichterten.

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Die drei jungen Bürgerwissenschafterinnen untersuchen in Kalifornien die Wasserqualität von Flüssen.
Foto: AP/Brad Peebler

Fünfzig aktuell laufende Projekte

Dieses Mitmachen beschränkt sich aber längst nicht mehr auf das Zählen von Vögeln, Schmetterlingen oder Amphibien und die Sammlung der entsprechenden Daten. Unter den 50 aktuell laufenden Citizen-Science-Projekten in Österreich, die auf der Seite "Österreich forscht" unter www.citizen-science.at verzeichnet sind, beschäftigt sich etwa die Hälfte mit der Erfassung der lebendigen Natur. Es gibt auch Projekte in den Geschichtswissenschaften wie etwa GenTeam, bei dem es um die Bereitstellung genealogischer Daten sowohl für Historiker wie auch für Hobbyfamilienforscher geht, oder Projekte zur Verwendung der deutschen Sprache.

Dass es in Österreich eine – auch im internationalen Vergleich – sehr lebendige Citizen-Science-Szene gibt, ist nicht zuletzt das Verdienst zweier Nachwuchsforscher: Daniel Dörler und Florian Heigl haben noch als Dissertanten an der Universität für Bodenkultur die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Forschung zunächst für eigene Zwecke entdeckt: Dörlers Dissertation widmete sich der Ausbreitung invasiver Nacktschnecken und jene von Heigl den im Straßenverkehr getöteten Tieren.

Daniel Dörler ist einer der beiden Protagonisten und Koordinatoren von Citizen Science in Österreich.
Foto: privat

Um ein möglichst großes Gebiet abzudecken, reichte die Mitarbeit von ein oder zwei Personen nicht aus. Deshalb entwickelten die beiden Apps, um auf diese Weise möglichst viele Beobachtungen von Personen zu erhalten, die am Projekt mitmachen wollten. Das klappte zunächst nur bedingt. Also wandten sich die beiden an andere Wissenschafter, die bereits mehr Erfahrungen mit ähnlichen Projekten hatten. Und wenig später war die Grundlage für die österreichische Citizen-Science-Plattform geschaffen, die seit 2014 existiert.

Österreich als Impulsgeber

Dörler und Heigl haben mittlerweile ihre Dissertationen abgeschlossen, haben feste Stellen an der Boku und koordinieren die österreichischen Aktivitäten in Sachen Bürgerwissenschaft, die weit über das Land hinaus ausstrahlen. So organisieren sie unter anderem die Österreichische Citizen-Science-Konferenz, die im September bereits zu sechsten Mal stattfand (das erste Mal online) und die wichtigste einschlägige Fachtagung im deutschsprachigen Raum ist. Sie trugen aber auch dazu bei, in Diskussionen mit Kollegen genauer einzugrenzen, was denn nun ein bürgerwissenschaftliches Projekt ist und was nicht. Das führte kürzlich auch zu einer angeregten Debatte im renommierten Fachblatt PNAS.

"Projekte, die unter Citizen Science laufen, sollen wissenschaftlichen Standards genügen und zugleich Bürger möglichst aktiv in den Forschungsprozess einbinden", sagt Daniel Dörler. "Bloße Vermittlung wissenschaftlichen Wissens an Laien fällt also ebenso wenig unter Citizen Science wie die reine Bereitstellung von eigenen Gesundheitsdaten ohne weitere Einbindung in den wissenschaftlichen Prozess", ergänzt Florian Heigl.

Florian Heigl hat mit Daniel Dörler und weiteren Kolleginnen und Kollegen auch eine internationale Diskussion über Kriterien von Citizen Science initiiert.
Foto: privat

Diese Form von Bürgerbeteiligung verspricht im Idealfall, Wissenschaft wieder zu demokratisieren, sie stärker an den gesellschaftlichen Bedürfnissen auszurichten und den Austausch zwischen Bürgern und Forschern zu verbessern. Für den deutschen Wissenschaftstheoretiker Peter Finke, der in den vergangenen Jahren mehrere Bücher über Citizen Science veröffentlichte, bietet Bürgerwissenschaft dabei die Chance, die Wissenschaft selbst zu verändern. Diese sei heute zu stark professionalisiert, während früher selbst so berühmte Naturforscher wie Charles Darwin in gewisser Weise Bürgerwissenschafter gewesen seien.

Professionalisierung der Forschung

Das liegt freilich auch daran, dass selbst der Begriff "scientist" relativ jungen Ursprungs ist und sich erst – nach einem Vorschlag des Briten William Whewell aus dem Jahr 1834 – im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte, parallel zur Professionalisierung der Wissenschaften auch in Österreich. Diese allmähliche Professionalisierung lässt sich etwa an den frühen Mitgliedern der 1851 gegründeten Zoologisch-Botanischen Gesellschaft Österreichs und der ersten Zoologengeneration des Landes zeigen: Georg von Frauenfeld war ursprünglich Mauteinnehmer, Johann Zelebor ein Strumpfwirker, Johann Jakob Heckel war Landwirt, und Hermann Schlegel, der es zum Direktor des Naturkundemuseums in Leiden bringen sollte, hatte als Klempnergeselle begonnen.

International gilt die seit dem Jahr 1900 regelmäßig zu Weihnachten stattfindende Vogelzählung der US-amerikanischen Audobon Society als das erste "echte" Citizen-Science-Projekt.

In Österreich gibt es etliche ornithologische Projekte mit Bürgerbeteiligung. In einem davon geht es um den häufigsten Greifvogel Wiens, den Turmfalken.
Foto: imago images/Oliver Willikonsky

Doch wissenschaftliche Projekte mit Bürgerbeteiligung im heutigen Sinn gab es auch in Österreich schon viel früher – etwa im Bereich der Meteorologie, wie die Wissenschaftshistorikerin Deborah Coen von der Yale University in ihrem Buch Climate in Motion zeigt.

Citizen Science avant la lettre

Um meteorologische Daten aus möglichst vielen Orten der Monarchie zu sammeln, rief Karl Kreil, der spätere erste Direktor der Zentralanstalt für Meteorologie, 1849 "Freunde der Naturwissenschaft" dazu auf, sich "ohne einen Anspruch auf Entgelt" an den Messungen von Wetterdaten zu beteiligen. Mit der Hilfe solcher freiwilligen Beobachter – darunter Pfarrer, Ärzte und Apotheker – wurden 1860 bereits 117 Wetterstationen betrieben, die für die neu gegründete Zentralanstalt für Meteorologie (heute: ZAMG) das weltweit erste flächendeckende Netzwerk für Temperatur, Luftfeuchte und Luftdruck bildeten, was wiederum ab 1865 die ersten täglichen Wetterkarten ermöglichte.

Von den heute rund 270 automatisch messenden Stationen in Österreich hat heute rund die Hälfte zusätzliche ehrenamtliche Beobachter, wie die Historikerin und Geografin Christa Hammerl weiß, die selbst an der ZAMG forscht und auch frühe Citizen-Science-Aktivitäten im Bereich der Erdbebenforschung rekonstruierte: Nach einem schweren Erdbeben in Laibach kam es zur Gründung eines Netzwerks von Erdbebenbeobachtern, die für ihre jeweilige Gegend entsprechende Berichte verfassten und nach Wien schickten.

Citizen Science avant la lettre gab es aber etwa auch im Bereich der Geisteswissenschaften. Ein gutes Beispiel dafür ist das 1911 begonnene Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich. Um zu erforschen, wo welche bairisch-österreichischen Dialekte wie gesprochen werden, halfen auch hunderte sprachwissenschaftliche Laien mit.

Wissenschaft für die Gesellschaft

Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es dann in Österreich aber zu einer gewissen Entfremdung der vor allem universitär betriebenen Wissenschaft von den Bürgern. Konservative Professoren, die ab der Zwischenkriegszeit die heimischen Hochschulen zu dominieren begannen, lehnten die "Demokratisierung" von Forschung als linkes Projekt ab. "Denn die Wissenschaft, man weiß es, achtet nicht des Laienfleißes", reimte der deutsche Dichter Christian Morgenstern.

Das hat sich mittlerweile einigermaßen geändert. Die lange Abschottung von der Öffentlichkeit wurde und wird auch innerhalb der Wissenschaft als Problem wahrgenommen, zumal sie sich auch negativ auf das Vertrauen in Forschung auswirken kann. Deshalb wurden zahlreiche Initiativen und Konzepte wie "Third Mission" erfunden, um darauf hinzuweisen, dass die Universitäten und andere öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen letztlich auch für die Gesellschaft da sind.

Mehr als 100.000 Citizen Scientists

CitizenScience verspricht dabei als Methode besonders attraktiv zu sein, da im Idealfall auch die Forschungstätigkeit selbst vom Mitmachen der Bürger profitiert, die zugleich Kontakt mit "echten" Wissenschaftern erhalten. Wenn sich diese Mitarbeit freilich auf das bloße Sammeln von Daten beschränkt, sieht die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack den wahren Sinn von Citizen-Science nicht erfüllt. Diese unbezahlte und ehrenamtliche Einbindung von Bürgern könne im schlechtesten Fall sogar so weit gehen, dass dadurch Leuten Arbeit weggenommen wird, die bis jetzt bezahlt war.

Florian Heigl schätzt, dass in Österreich bis jetzt immerhin schon mehr als 100.000 Menschen auf verschiedene Art und Weise an Citizen-Science-Projekten teilgenommen haben. Das ist etwa im Vergleich zu Deutschland recht viel, wo es nur wenig mehr laufende Forschungsvorhaben mit Bürgerbeteiligung gibt. "In Österreich ist im Unterschied zu Deutschland, wo das Wissenschaftsministerium eine wichtige Rolle spielt, viel an Citizen Science von unten gewachsen", sagt Florian Heigl.

Was nicht heißen soll, dass es in Österreich nicht auch vom Wissenschaftsministerium Unterstützung gab und gibt – nicht nur durch die Unterstützung der Plattform "Österreich forscht", sondern etwa auch im Rahmen der Initiative Sparkling Science, die Schülerinnen und Schüler an die Wissenschaft heranführte.

Die Preisträgerinnen und Preisträger des österreichischen Citizen-Science-Wettbewerbs 2019.

Neue Kontaktmöglichkeiten

Auch der Wissenschaftsfonds FWF zeigte sich der Citizen Science gegenüber aufgeschlossen und förderte bewilligte Forschungsprojekte mit zusätzlichen Mitteln, wenn dabei Bürgerinnen und Bürger eingebunden wurden. Und an den heimischen Universitäten entstehen ebenfalls neue Kontaktmöglichkeiten für angehende Citizen Scientists: Immerhin knapp ein Drittel der laufenden Projekte geht von Hochschulen aus. Eine Vielzahl der Projekte wird von Vereinen wie BirdLife Österreich betrieben.

Das Deck 50 im Naturhistorischen Museum Wien geht demnächst in Betrieb.
Foto: Naturhistorisches Museum Wien / D. Juchum

Was in Österreich noch fehlt, ist auch eine räumliche Andockstelle für Bürgerwissenschaft. Aber auch diese Lücke sollte demnächst geschlossen werden: Im Naturhistorischen Museum Wien, das eine lange Tradition an Bürgerwissenschaft hat und wo selbst einige laufende Citizen-Science-Projekte angesiedelt sind, wird gerade das Deck 50 fertiggestellt – ein neuartiger Begegnungsraum, der viele innovative Möglichkeiten bieten soll, noch mehr Bürgerinnen und Bürger zu Mitforschenden zu machen. (Klaus Taschwer, 1.11.2020)

Dieser Text erschien im Magazin "Der Standard Forschung", das unter diesem Link um Euro 5,90 erworben werden kann.