Holder Gesang wird mit Fesselung geahndet: Der gallische Poet Troubadix sieht sich regelmäßig am lyrischen Tun gehindert.

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Wer Gedichte schreibt oder mit lyrischen Erzeugnissen Umgang pflegt, muss im 21. Jahrhundert auf Tadel gefasst sein – auch aus dem Munde solcher Zeitgenossen, die sonst vorgeben, Literatur als solcher wohlmeinend gegenüberzustehen.

Als US-Autorin Louise Glück, eine Lyrikerin mit hohem Abstraktionsvermögen, dieser Tage den Literaturnobelpreis zugesprochen erhielt, meldeten sich sofort Kommentatoren mit pikierter Miene zu Wort. Wie könne man allen Ernstes eine Dichterin auszeichnen, die Blumen und Bäume besingt und obendrein ein mysteriöses Naheverhältnis zu Gestalten der Mythologie bekundet, wie der während der Hälfte des Jahres in der Unterwelt wohnenden Persephone?

Lyrik, früher als die Königsdisziplin der Literatur angesehen, wird häufig nur noch mit Achselzucken bedacht. Die Angewohnheit, Wortfolgen ungewöhnlich zu umbrechen und Wörter freiwillig dem Zwang von Metrum und Reim zu unterwerfen, weckt Misstrauen. Was Dichterinnen und Dichter verklausuliert mitteilen, dunklen Sinnes und auf zarten Versfüßen einhergehend, könne man besser ohne Brimborium äußern.

Allen Ernstes wird gegen die Lyrik vorgebracht, sie lasse es an Klarheit fehlen. Wo das Gedicht beschwört, flucht, bittet, zwitschert oder raunt, dort habe, auf die Essenz des Auszusagenden reduziert, die klar umrissene Botschaft zu stehen. Poesie, eine der ältesten Kulturleistungen, wird im Betrieb herumgeschoben wie eine senile Tante. Dazu passt, dass selbst renommierte Poeten von ihren Gedichtbüchern Absatzzahlen im dreistelligen Bereich vorweisen. Vergessen scheint, dass es einst die Dichter waren, die als Mittler die Verbindung zum (mittlerweile von Gott verlassenen) Himmel aufrechterhielten. Victor Hugo nannte das ein "pontificat de l’infini": priesterliche Kontaktnahme mit der Unendlichkeit.

Anrufung der Götter

Die Funktionsweisen feierlicher Rede bleiben heutzutage unerkannt. Das ehedem übermächtige Prestige der Poesie verdankt sich ihrer Anrufung übergeordneter Mächte. Wer das Lob höchster Instanzen "besang", versicherte sich nicht nur des göttlichen Wohlwollens. Er durfte aufgrund seiner wohlgeschmückten Rede hoffen, mit Gaben bedacht zu werden: Auch die ewigen Götter wollen bestochen sein. Also schmeichelte man ihnen, indem man ihnen möglichst zahlreiche rühmliche Eigenschaften andichtete.

Dass die menschliche Anrufung von Mächten, die unverfügbar sind, im Prinzip unerwidert blieb, half der Poesie dabei, ihren Weg in die Selbständigkeit zu gehen. Das Prinzip der Anrufung hat sich in das allbekannte Partikelwort "o" herübergerettet: "O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe!", hob noch Mörike im 19. Jahrhundert an. Ein Zeitalter, dem man Flaumenleichtigkeit nicht ohne Weiteres wird nachsagen können.

Immer häufiger gefielen sich Dichter darin, möglichst paradoxale, ungewöhnliche oder verblüffende Aussagen zu treffen. Noch nach der vorletzten Jahrhundertwende konnte sich ein Poet wie Rainer Maria Rilke schmeicheln, selbst plumpen Gegenständen durch den Akt ihrer Benennung so etwas wie Geistigkeit abzugewinnen: eine allein mit den Mitteln der Dichtung herstellbare Substanz. Etwas vom Zauber poetischer Einbildungskraft findet sich in Walter Benjamins Überzeugung wieder, Dinge würden den Blick, der auf sie geworfen wird, mit Innigkeit erwidern.

Magische Praxis

Zur magischen Praxis von Lyrik gehört unzweifelhaft der Nimbus ihrer moralischen Überlegenheit. Vor jeder Unterscheidung von "gut" und "böse" steht diejenige von "schön" und "hässlich": Ein Modernist wie Charles Baudelaire, Schöpfer der "Blumen des Bösen", hat nicht nur die Vorgängigkeit ästhetischer Kriterien postuliert. Er forderte die Haltung immerwährender "Kindlichkeit" als Voraussetzung für Dichtung um ihrer selbst willen ein: "l’art pour l’art".

So konnte ein Lyriker wie der russische Exildichter Joseph Brodsky die Überlegenheit der Poesie gegenüber jedem anderen "Sprachspiel" ungerührt ins Treffen führen: aus Anlass der Überreichung des Literaturnobelpreises an ihn 1987. Die Menschen sollten gefälligst auf der Höhe der Poesie leben und sich nicht nach der dummen Politik richten. Theodor W. Adornos berüchtigte Frage, wie man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, konterte Brodsky mit einer provokanten Gegenfrage: "Und wie können Sie Essen zu sich nehmen?"

Nach Brodsky haben noch sieben Hersteller von Gedichten den Literaturnobelpreis erhalten: wenn man die Gelegenheitslyrikerin Herta Müller hinzuzählt und natürlich das Songwriter-Genie Bob Dylan. Der Preis gleicht einem schönen Honorar: Die Nachfahren Orpheus‘ werden seit jeher nicht entlohnt, sie erhalten eine "Ehrengabe". Lyrik muss man sich nämlich leisten können. (Ronald Pohl, 17.10.2020)