"Georgia On My Mind" – das ist für mich mehr als ein großartiger Jazzstandard, vielmehr Alltag seit 15 Jahren, seit ich aus Europa in die USA ausgewandert bin – nach Atlanta, in die Hauptstadt des Bundesstaates im Süden, dessen Symbol der Pfirsich ist. Seither versuche ich Georgia jenseits der zahlreichen Klischees, der guten und der weniger guten, zu durchdringen.

Georgia – das ist die Heimat von Baumwolle und Blues, "Vom Winde Verweht", Martin Luther King und Jimmy Carter. Hier feierte der rassistische Ku-Klux-Klan 1915 seine Wiedergeburt, hier befinden sich die Firmensitze von Coca-Cola und CNN. Erst im Frühjahr machte Georgia internationale Schlagzeilen, als der republikanische Gouverneur Brian Kemp in einem Versuch, Präsident Donald Trumps laxes Corona-Management noch zu übertrumpfen, als erster US-Bundesstaat die Wirtschaft wieder öffnete – beginnend mit Friseur- und Massagesalons, Tattoo- und Fitnessstudios. Ich habe mich ein bisschen fremdgeschämt für meinen Heimatstaat – und in dem Zusammenhang gemerkt, dass es für das Wort Fremdschämen keine wirkliche Entsprechung im Englischen gibt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Frühwähler in Marietta/Georgia.
Foto: Reuters/Nouvelage

Möglicher Swing State

Aber jetzt sorgt Georgia für Schlagzeilen der anderen Art. Nach 28 Jahren republikanischer Dominanz könnte Georgia bei den Wahlen am 3. November zum Swing State werden, also zum Staat, in dem die Machtverhältnisse kippen – in diesem Fall: zugunsten der Demokraten. Das letzte Mal, als Georgia für einen demokratischen Präsidenten gestimmt hatte, war 1992 – und zwar für den Südstaatler Bill Clinton. Georgia hat 16 Wahlmännerstimmen zu vergeben, und nach dem amerikanischen Wahlrecht gilt das Prinzip: The winner takes it all.

Bereits vor vier Jahren war das Rennen zwischen Donald Trump und Hillary Clinton in Georgia knapper ausgefallen als bei den Präsidentschaftswahlen davor – mit 50,4 zu 45,3 Prozent für Trump. Dieses Mal, da sind sich viele Wahlexperten einig, stehen die Chancen für die Demokraten und ihren Kandidaten Joe Biden besser. "Es gibt gute Gründe, im November genau auf Georgia zu schauen," sagt Andra Gillespie, Politikwissenschafterin an der Emory-Universität in Atlanta. Aktuelle Umfragen sehen Biden in Georgia mit einem leichten Vorsprung vor Trump – aber das war 2016 durchaus ähnlich für Hillary Clinton. Dann kam es anders, und deshalb halten zumindest demokratische Wähler ihre Erwartungen behutsam in Schach.

Rasches Wachstum

Es gibt jedoch einige Trends und Indikatoren, die auf eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse hindeuten. Zwar wählen die ländlichen Regionen in Georgia traditionell republikanisch, doch die Metropole Atlanta ist seit langem eine demokratische Insel. Die demokratische Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, wurde kurzzeitig als Vizepräsidentschaftskandidatin von Joe Biden gehandelt. In den vergangenen zehn Jahren ist die Metropolregion Atlanta nicht nur rasant gewachsen – von 5,3 auf 6 Millionen Einwohner. Viele der Zugezogenen, vor allem die Jüngeren, reflektieren auch die zunehmende ethnische Vielfalt des Landes. Auch in den Suburbs, den Vorstädten, die lange Zeit weitgehend in republikanischer Hand waren, ändert sich die demografische Zusammensetzung und damit auch das Wählerverhalten – ein Trend nicht nur in Atlanta, sondern in vielen amerikanischen Städten.

Hinzu kommt: Georgia hat einen starken schwarzen Bevölkerungsanteil. Afroamerikaner machen 54 Prozent der Bevölkerung in Atlanta aus und 32 Prozent in Georgia. Der Landesdurchschnitt liegt bei gut 13 Prozent. Schwarze Amerikaner stimmen mit 80 bis 90 Prozent für die Demokraten.

Hohe Beteiligung

Die Wahlbeteiligung dürfte in diesem Jahr höher sein als sonst, erwartet Gillespie. Die Briefwahl ist bereits in vollem Gang, und seit dem 12. Oktober kann man in Georgia auch zum early voting gehen, zur Frühwahl. Ich habe gleich am ersten Tag gewählt und hatte Glück, weil die Schlangen kurz waren – aber einige Freunde und Kollegen standen bis zu fünf Stunden an, um ihre Stimmen abzugeben.

Bereits die Gouverneurswahl in Georgia von 2018 gab einen Vorgeschmack darauf, dass sich der politische Wind in dem Bundesstaat drehen könnte. Die demokratische Kandidatin Stacey Abrams verlor mit einer hauchdünnen Mehrheit von knapp 55.000 Stimmen gegen den Republikaner Kemp. Schließlich stehen am 3. November auch die beiden bislang republikanisch besetzten Senatssitze von Georgia zur Abstimmung, und in beiden Fällen liegen die demokratischen Kandidaten nach Umfragen vorn. Georgia on our minds: Der Pfirsichstaat hat am 3. November jedenfalls einen Logenplatz auf dem Radar all derjenigen, die die Präsidentschaftswahl mit Interesse und Bangen beobachten. (Katja Ridderbusch aus Atlanta, 16.10.2020)