Emmanuel Macron spult seinen Auftritt routiniert herunter. Mit betroffener Miene erklärt er den vor der Schule des ermordeten Pädagogen Samuel Paty anwesenden Journalisten, der Geschichtslehrer sei ermordet worden, weil er "seine Schüler die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit zu glauben und nicht zu glauben lehrte".

Bild nicht mehr verfügbar.

Emmanuel Macron hat Routine in Auftritten nach islamistischen Terrorangriffen.
Foto: AP/Eassa

Im Hintergrund steht über dem Schuleingang "Liberté–Egalité–Fraternité" – die Grundlage der französischen Gesellschaft und im weiteren Sinne auch jene Europas. Nicht weniger als diese wird durch den neuerlichen islamistischen Terroranschlag erschüttert. Würde es sich um ein singuläres Ereignis handeln, könnte man zur Tagesordnung übergehen, doch das Problem sitzt tiefer.

Le Monde

Der ermordete Lehrer hatte in seinem Unterricht die Meinungsfreiheit thematisiert und beispielhaft die Karikaturen des Magazins Charlie Hebdo herangezogen. Jenen Schülern, die der Meinung waren, dass die Karikaturen sie beleidigen könnten, stellte er frei, das Klassenzimmer zu verlassen. Er hat damit Toleranz gegenüber der Intoleranz gezeigt. Dennoch wurde er damit zur Zielscheibe einer durch und durch kranken Ideologie.

"Ich habe einen ihrer Höllenhunde hingerichtet, der es gewagt hat, Mohammed herabzusetzen", postete der Täter mit einem Foto des abgetrennten Kopfes seines Opfers auf Twitter. Der 18-jährige Tschetschene hatte seit einem Jahr Asylstatus in Frankreich und war den Behörden nach eigenen Angaben bisher nicht aufgefallen.

Blumen und ein Schild mit der Aufschrift "Ich bin Samuel" vor der Schule in Conflans-Sainte-Honorine.
Foto: AFP/Guay

Doch Samuel Paty hatte eindeutige Drohungen erhalten. Der Vater eines Schülers hatte eine Beschwerde gegen ihn eingereicht und hetzte im Internet gegen ihn. In der Schule erschien der Vater mit einem bekannten Islamisten. Dennoch schritten die Behörden gegen das Netzwerk extremistischer Gesinnung nicht ein.

Dabei waren die Warnzeichen deutlich sichtbar. Erst im September hatte ein Pakistaner, der sich mit Falschangaben zu seiner Identität einen Asylstatus in Frankreich erschlichen hatte, das Land mit einem Terroranschlag schockiert. Er griff zwei Mitarbeiter einer Medienagentur vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude der Zeitschrift Charlie Hebdo mit einem Messer an, weil er die Darstellung des islamischen Propheten Mohammed in Karikaturen nicht ertragen konnte. Wenige Tage zuvor musste die Personalchefin Charlie Hebdos nach Morddrohungen aus ihrer Wohnung an einen sicheren Ort gebracht werden –Marika Bret hatte zehn Minuten Zeit, um zu packen und ihr Heim zu verlassen.

Eine Gedenkveranstaltung von Lehrern am Tatort in Conflans-Sainte-Honorine.
Foto: AFP/Guay

Der Gewalt weichen musste im Jänner auch die 16-jährige Schülerin Mila O., die sich in einem Internetchat kritisch über den Islam geäußert hatte und danach mit Morddrohungen konfrontiert war, unter anderem aus ihrem direkten schulischen Umfeld. Sogar Macrons Justizministerin Nicole Belloubet gab dem Mädchen eine Mitschuld an der Entwicklung und warf ihr einen "Angriff auf die Gewissensfreiheit" vor. Mila erhielt schließlich Polizeischutz und musste andernorts ein neues Leben beginnen, der Gewaltmob hatte gewonnen.

Antiaufklärerischer Zeitgeist

Vertreter des aufgeklärten Gedankengutes haben es in Frankreich zur Zeit ohnehin nicht leicht. Nicht nur der religiöse Fundamentalismus gewinnt an Stärke, auch andere radikale Gruppierungen höhlen die Meinungsfreiheit von rechts und links aus. Sogar Voltaire, einer der Väter der Aufklärung, geriet ins Visier von Anhängern einer linksautoritären Ideologie. Er habe am Kolonialhandel mitverdient, wird ihm vorgeworfen. Die Tatsache ignorierend, dass die heutigen Grundlagen der freien Meinungsäußerung ohne sein Wirken kaum vorstellbar wären, wurde seine Statue in Paris mit Farbe überschüttet und mehrfach beschädigt. Im Sommer verschwand sie schließlich von ihrem Aufstellungsort, der Pariser Stadtregierung zufolge für Sanierungsarbeiten.

Im Juni wurde Voltaires Statue in Paris mit roter Farbe überschüttet, im August war der Standort des Denkmals leer – temporär, wie sich das Pariser Rathaus zu erklären bemühte.
Foto: EPA/Tesson

Besinnung auf Werte der Aufklärung

Dass nun zumindest einige der Hetzer im Umfeld des Mörders Samuel Patys verhaftet wurden, lässt zumindest hoffen, dass sich die Regierung auf die Werte der Aufklärung besinnt und nicht mehr wie zuletzt einen Kurs der Unterwerfung unter den Fundamentalismus fährt.

"Europäisches Lebensmodell"

Auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz meldete sich noch in der Nacht auf Samstag per Twitter zu Wort. "Wir werden uns dadurch nicht einschüchtern lassen und unser europäisches Lebensmodell weiterhin verteidigen", schrieb Kurz. Ob diese Worte eine leere Hülse bleiben, ist offen, dass konkrete Taten folgen ist zweifelhaft. Erste glaubwürdige Schritte wären ein verpflichtender Ethikunterricht als Ersatz für den Religionsunterricht an den Schulen und die Streichung des antiquierten Blasphemie-Paragrafen 188 aus dem Strafgesetzbuch.

Grundwerte als Basis der Erziehung

Die Indoktrination der Kinder durch religiösen Fundamentalismus beginnt schon früh, sowohl in der Familie und in Moscheen und Kirchen, aber auch in den Bildungseinrichtungen. Es ist nicht einzusehen, dass schon Volksschüler Religionsunterricht erhalten, Ethik und auch Philosophie jedoch ein bildungspolitisches Schattendasein führen. Die Grundwerte unseres Zusammenlebens müssen von Anbeginn die Basis der Erziehung und Bildung der Kinder sein.

Die Unterrichtslektion im Sinne der Aufklärung, die Samuel Paty seinen Schülern zukommen ließ, muss alle Schüler erreichen – in Frankreich und in ganz Europa. Die Gefahr ist jedoch groß, dass die Lehrer nach dem Mordanschlag aus Sorge um die eigene Sicherheit nun zurückweichen. Der Slogan "Je suis Samuel" reicht nicht: sie brauchen die Rückendeckung der Politik. Diese zu gewähren ist die Verpflichtung der Regierungen, sie mit Nachdruck einzufordern obliegt jedoch jedem einzelnen Bürger. (Michael Vosatka, 18.10.2020)

Eine Kundgebung von Lehrern in Rennes.
Foto: AFP/Meyer