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Plastik hat keinen guten Ruf: Es baut sich in der Natur kaum ab und verschmutzt den Planeten bis weit in die Ozeane. Martin Stephan kann dem Kunststoff aber auch Gutes abgewinnen: "Er ist leicht, billig und durchsichtig, und er wirkt sogar ökologisch, indem er zum Beispiel die Haltbarkeit von Esswaren verlängert", meint der Vizechef des französischen Start-up-Unternehmens Carbios. "Gerade in Corona-Zeiten schätzen wir seine Schutzwirkung."

Nein, das Problem sei nicht das Plastik, sondern der Plastikmüll, meint Stephan per Videocall aus Clermont-Ferrand (Zentralfrankreich), wo das Cleartech-Unternehmen angesiedelt ist. 70 Prozent des weltweit produzierten Plastiks wird nicht wiederverwertet. Allein die PET-Familie mit Flaschen, Textilien, Verpackungen und Komponenten sorgt jährlich für weit über 60 Millionen Tonnen Abfall. "Davon enden neun Millionen Tonnen im Ozean", bedauert der Carbios-Vize.

Verunreinigung steigt

Mehr und mehr wird recycelt – das heißt getrennt, zerstückelt und zu einer Art "Occasions-PET" geschmolzen. Doch dieses Verfahren ist laut Carbios nur sechs- oder siebenmal möglich. "Wegen der zunehmenden Verunreinigung des recycelten Plastiks nimmt seine Qualität ständig ab. Irgendwann landet die Flasche auf einer Müllverbrennung oder in den Weltmeeren."

Beim herkömmlichen Recycling leidet die PET-Qualität. Enzyme verhindern das.
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Die 35 Angestellten von Carbios wollen das nun ändern, indem sie die Abfallwirtschaft rund um den Planeten revolutionieren. Das 2011 gegründete Start-up hat eine biotechnologische Methode entwickelt, welche die Nachteile des thermoplastischen Recyclings im PET-Bereich ausmerzt. Grundlage ist ein Enzym, das als bakterieller Katalysator wirkt: Es zerlegt die riesenlangen Plastikpolymere, die Polyethylenterephthalat (PET) eigen sind, auf natürliche Weise in ihre Bestandteile. Etwa so, wie wenn man eine Halskette in ihre einzelnen Perlen zerschneiden würde.

Die Carbios-Biologen haben das Enzym nicht selber "erfunden". Sie hatten es auf Mülldeponieren vermutet und dort auch bei zahlreichen Testläufen gefunden. Dann begann die Kleinarbeit: Mit der Zugabe weiterer Mikroorganismen beschleunigten sie das Protein über die Jahre so stark, dass es eine PET-Flasche binnen zehn Stunden zu 90 Prozent abbauen kann.

Neues Granulat entsteht

Sind die Kunststoffpolymere einmal zerlegt, beginnt die Wiederaufbauarbeit. Aus den Molekülen werden Plastikkörner gebildet. Dieses Granulat stellt neues Plastik dar, ist also kein recycelter Stoff. "Heute werden Plastikflaschen einer gewissen Farbe zu einem ähnlichen Produkt geschmolzen", führt Stephan aus. "Aus einer grüngefärbten PET-Flasche können wir zum Beispiel ein rotes T-Shirt fabrizieren, aus schwarzem Polyester eine durchsichtige Lebensmittelverpackung." Ohne dass ein Tropfen Erdöl verwendet werde, entstünden neue PET-Flaschen, Plastikbehälter für Lebensmittel, Polyesterfasern oder Polyamid-Leibchen.

Das Carbios-Enzym ist damit ein perfekter Fall von Kreislaufwirtschaft: Das Verfahren lässt sich unendlich oft wiederholen. Dies betätigte das Wissenschaftsmagazin Nature in einer Titelgeschichte. Nach diesem Ritterschlag und der Patentierung des Versuchsbetriebs baut Carbios in Clermont-Ferrand bis Mitte 2021 ein Demonstrationswerk für potenzielle Kunden. Die zentralfranzösische Kleinfirma liefert keine fertigen Anlagen, sondern Baulizenzen dafür. Interessenten hätten sich schon aus Deutschland, den USA oder Thailand gemeldet, sagt Stephan.

Große PET-Produzenten wie Pepsico, Nestlé Waters oder Orangina Schweppes stehen unter Druck, weniger Plastik zu produzieren. Sie sind offen für Alternativen zum herkömmlichen Recycling, das 40 Prozent teurer ist als die petrochemische Herstellung neuer Plastikflaschen.
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Für die industrielle Umsetzung arbeitet Carbios mit großen PET-Produzenten wie Pepsico, Nestlé Waters oder Orangina Schweppes zusammen. Sie stehen unter öffentlichem Druck, weniger Plastik zu produzieren, und sind offen für Alternativen zum herkömmlichen Recycling, das 40 Prozent teurer ist als die petrochemische Herstellung neuer Plastikflaschen.

Und wie viel wird das Carbios-Verfahren kosten? Stephan beantwortet diese Gretchenfrage ausweichend: "Den Preis legen nicht wir fest, er wird am Markt festgelegt." Der Carbios-Vize verhehlt nicht, dass sein Verfahren heute noch kostspieliger ist als das Flaschenrecycling. Eine Preisgleichheit zu erreichen sei aber möglich. Dazu würden aber mehr Forschung und Erfahrung nötig sein.

Die Finanzmärkte glauben offenbar an das neue Verfahren: An der Pariser Börse hat Carbios seinen Aktienkurs seit der ersten Notierung 2013 mehr als verdoppelt. Der französische Kosmetikhersteller L’Oréal und der Reifenkonzern Michelin halten seit Juli je rund fünf Prozent der Aktien. Stephan räumt ein, dass noch einige Zeit vergehen werde, bis der Carbios-Slogan "Damit Plastik nie mehr Abfall wird" realisiert sei. Er ist aber überzeugt, dass das neuartige Verfahren indirekt dazu beitragen kann, die Plastikmassen in den Ozeanen zu reduzieren. (brä, 19.10.2020)