Deniz Ohde (32) erzählt in ihrem Romandebüt nicht ihre eigene Geschichte – aber sie kennt das Milieu.

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Während ihre Freundin Sophia abends im Bett im Französischwörterbuch schmökert, wälzt die namenlos bleibende Erzählerin in Deniz Ohdes Roman Streulicht im Kopf andere "Zeichensysteme", nämlich die geheimen Codes ihrer Familie, etwa dass sie besser still ist, wenn der Vater betrunken die Augenbrauen hochzieht. Oder dass er Gläser, die zerbrochen im Müll liegen, nach der Mutter geworfen hat. Das Mädchen muss das deuten können, denn es sind "Zeichen, die mir und meiner Mutter das Überleben sicherten".

Auch wenn der Deutsche Buchpreis jüngst doch an eine andere Autorin ging: Deniz Ohde war zu Recht nominiert. Denn ihr Debüt tut weh. Sie lässt eine junge Frau auf ihr Aufwachsen in einem Ort nahe einer deutschen Großstadt, aber noch näher an einem riesigen Industriegebiet zurückblicken. "Arbeiterstolz" ist ein Wort, dem man hier oft begegnet. Der "Wunsch" passt nicht in diese Welt – er gehört zu denen, die ihn "sich leisten konnten".

Tiefkühlpizza statt Gemüse

Die Familie der Erzählerin kann das nicht. Nicht wegen der alten Möbel mit dem Schmutzfilm drauf, nicht wegen der Talkshows, die nachmittags im Fernsehen laufen, nicht weil sie zu wenig Gemüse und zu viel Tiefkühlpizza essen. Seit seiner Jugend tunkt der Vater in einer der nahen Fabriken Bleche in Lauge, die Mutter stammt aus der Türkei. "Wenigstens schlägt er das Kind nicht", ist das Beste, was sie über ihn und ihr Leben sagen kann.

Ohde erzählt zudem von dem latenten Rassismus, der dem Mädchen, das sich jeden Morgen aus Angst, aufzufallen, die Oberlippe rasiert, in den 1990ern und frühen 2000ern entgegenschlägt. Die Lehrer schüchtern es ein, statt es zu fördern. Die Heldin kämpft sich trotzdem zum Studium durch, doch gibt es wieder keinen, der ihr zeigen könnte, wie man sich in dieser Welt bewegt. Also beginnt sie nach dem Abschluss als Putzfrau zu arbeiten. Dieselben Probleme kehren so oft wieder, dass es selbst beim Lesen fast zermürbt.

Schlingernder Bildungsroman

Mit diesem schlingernden Bildungsroman ist Ohde keine Einzelerscheinung. Diversität auch hinsichtlich Erfahrungen von Fremdheit, Armut und Migrationshintergrund findet sich immer häufiger in der deutschsprachigen Literatur. Sandra Gugićs Zorn und Stille handelt davon, vergangenes Jahr dominierte Saša Stanišić mit seinem (allerdings viel unterhaltsameren) Buch Herkunft sogar die Bestsellerlisten. Neu ist noch Frausein von Mely Kiyak, die als Gastarbeiterkind in Deutschland geboren wurde. Dass Verlage durchlässiger für solche Milieus und Stimmen geworden sind, liegt wohl neben aktuellen Debatten auch an breiter positiver Resonanz darauf in sozialen Netzwerken.

Die genannten Autoren erzählen im einen Fall mehr, im anderen weniger autobiografisch Geschichten, die lange bloß von Außenstehenden erfunden oder gar nicht erzählt wurden. Ohde selbst, als Tochter eines Türken und einer Deutschen 1988 geboren und nahe Frankfurt aufgewachsen, will Streulicht nicht autobiografisch verstanden wissen. Doch Stimmungen darin rührten aus der eigenen Erfahrung. Vielleicht auch der Umgang mit dem nie genannten Namen der Figur: Zu Hause spricht ihn die Mutter korrekt mit kurzem "i", draußen aber mit deutsch tönendem langen, "dass niemand Verdacht schöpfte".

Kraft in den Details

Wie Ohdes Hauptfigur sich – weil sie nie ermutigt wurde – schwer öffnet, ist auch das Buch nüchtern bis teils soziologisch beobachtend, distanziert. Ohde seziert soziale Ungerechtigkeit, Prekariat, Rassismus in unzähligen tristen oder himmelschreiend ungerechten Details. In ihnen steckt die Kraft des Textes, der mit einer kleinen Volte endet:

Die mittlerweile erwachsene Erzählerin ist zur Hochzeit ihrer Jugendfreunde Sophia und Pikka in ihren Heimatort gereist. Beide, obwohl oder gerade weil aus weniger prekären Familien, sind hier im Schatten der Industrieschlote in die Fußstapfen der Eltern hineingewachsen. Hatte die schwierige Jugend im Nachhinein etwas Gutes?

"Wie konnte dieses Kind durch die Maschen fallen?", fragt Streulicht einmal und berichtigt sich selbst: "Wenn einer in einem System versagt, das von vornherein auf sein Versagen angelegt ist, liegt die Schuld nicht bei ihm." (Michael Wurmitzer, 19.10.2020)