Ein paar Zuschauer mehr hätten wirklich möglich sein müssen – denn auch wenn Laufen nicht Fußball und Traillaufen nicht Asphalt-Massenrennen ist, sind sechs oder acht Zahlende im großen Saal des Wiener Haydn-Kinos kläglich.

Erst recht an einem Samstagabend: Da kann man sich das Debakel nicht einmal mit dem Hinweis auf den am nächsten Morgen stattfindenden Lindkogel-Trail schönreden. Und die Blödelei, dass niemand Sorge haben müsse, sich in einer fetten Aerosolwolke etwas einzufangen, wirkte schal: Der Wiener Tour-Stop des "Trails in Motion"-Festivals war ein Debakel – und das war schade. Richtig schade.

Foto: ©Jean-Marie Welbes

Schließlich hat man hierzulande nicht alle Tage die Chance, sich in wunderschönen Traumlandschaften zu verlieren und bequem aus dem Warmen, Trockenen und Weichen den Puls und die Stimmung eines Laufbewerbes hautnah zu erleben. Schon gar nicht auf der großen, wirklich großen Leinwand.

Und schon gar nicht, wenn die Läufe im "Backcountry", also im Gelände stattfinden: Traillaufen aus der Komfortzone – kann das gehen? Kann es, und sogar sehr gut. So gut, dass es in den Füßen juckt und man beschließt, am nächsten Tag (weil: jetzt grad sitzt man dann doch zu bequem und will ja auch sehen, wie dieser Lauf da, irgendwo im Nirgendwo in Irland, Neuseeland oder Colorado, weitergeht) die Profil-Laufschuhe anzuziehen und den Rucksack, angesichts dessen die Nachbarin immer lachend die Worte "männlicher Stillneid" strapaziert, umzuschnallen und loszurennen.

Foto: ©alp-con.net

"Trails in Motion" ist genau deshalb eine wirkliche feine Möglichkeit, sich "anzuckern" zu lassen. Lust aufs Geländelaufen zu bekommen – und zwar obwohl und gerade, weil in all diesen kurzen Filmen und Erzählungen im Grunde immer die gleiche Geschichte erzählt wird.

Eine Geschichte, die dann, wenn man sie auf einen Satz oder auf die drei zentralen Worte ("irgendwer rennt irgendwo") verdichtet, spätestens bei der dritten Wiederholung stinklangweilig wird. Die erst dann, wenn man ihr Raum und Zeit einräumt, plötzlich (zumindest: meistens) Tiefe bekommt. Divers, abwechslungsreich, nuanciert und vielfältig wird. Und sich im Close-up nie wiederholt. Weil jeder Lauf anders ist. Und schon der kleinste Perspektivenwechsel immer eine ganz andere Geschichte zutage fördert. Obwohl es trotzdem immer "nur Laufen" ist.

Foto: ©alp-con.net

Natürlich sind bei so einem Festivalpaket nicht alle Filme gleich spannend. Nicht gleich gut. Sei es, was Spannungsbögen, sei es was das Handwerk angeht. Und natürlich auch, weil jeden und jede etwas anderes mitreißt. Und ganz ehrlich? Heuer haben mich die von James Hallett zusammengestellten Filme auch nicht ganz so umgehauen wie im Vorjahr.

Denn da mischte der südafrikanische "Trail Runner, Surfer and General Lover of the Outdoors" (Eigendefinition), der 2010 mit einem Trail-Running-Blog begann und seine Filmtour mittlerweile in 30 Ländern in 140 Kinos bringt, ein Paket, das mich persönlich besser abholte. Vor allem die auf der großen Leinwand unglaublich heftigen Schwarzweißbilder von Alexis Bergs "La Barklay – Sans Pitié" rissen mich vom Hocker. Nicht dass die weit bekannteren Barklay-Dokus auf Netflix und Co über den vermutlich seltsamsten und vielleicht härtesten Lauf der Welt fad wären, aber die Dia-Collagen waren ganz was anderes.

Foto: @trailsinmotion

Wobei das diesjährige Programm auch alles andere als fad oder gar eintönig war: Von "Human Powered", Matt Cecils Hommage an die Mitarbeiter des 100 Kilometer langen "Finlayson Arm"-Laufes in Vancouver, über "Frosty", ein Porträt der legendären neuseeländischen Ultraläuferin Anna Frost, reichte das Spektrum bis zum Heldenepos "Leadman – the Dave Mackey Story": Dave Mackey, in den Nullerjahren mehrfach vom US "Ultratrail Magazine" zum "Trailrunner of the Year" gekürt, verunglückte 2015 beim Laufen schwer und verlor infolgedessen ein Bein.

Sein Weg zurück wird nah und schonungslos gezeigt: von der Bergung nach dem Unfall hin zu Versuchen, das Bein zu retten und damit wieder mobil zu sein bis zur Amputation. Aber eben auch zur "Wiederauferstehung", bei insgesamt fünf harten Läufen innerhalb von nur zwei Monaten – mit dem "Leadville 100" als Finale: Es geht nicht ums Happy End, sondern die eine mehr als nur eindrucksvolle Geschichte über das (Sich)-nicht-Aufgeben.

Foto: @alp-con.net

Dennoch war mein liebster Film heuer der auf den ersten Blick vielleicht schlichteste. "Coming Home – Ag Tracht Abhaile" erzählt genau die Geschichte des Filmtitels: Die des Nachhausekommens und des Findens von dem, was Heimat, was Zuhause überhaupt bedeutet.

Paddy O'Leary, der "Held" des 24-Minüters, wuchs in Irland auf, zog nach San Francisco und entdeckte dort seine Liebe und sein Talent zum Laufen. Genau das bringt ihn zurück nach Irland: Er will beim 115 Kilometer langen Wicklow Trail die FKT, also die "Fastest Known Time", aufstellen, findet bei dem "Selbstnavigierer" aber etwas ganz anderes: seine Wurzeln.

Die Geschichte ist so einfach wie die Bilder schön sind: Irland eben. Ich stehe drauf.

Foto: @alp-con.net

Mit gerade einmal sechs oder acht zahlenden Besuchern im Haydn-Kino war dieser Stopp der vom Innsbrucker Markus Eigentler (im Bild) organisierten Österreich-Runde der "Trails in Motion"-Reihe aber ein echtes Fiasko. Und niemand wusste so recht, was da falsch gelaufen war: Eigentler ist mit seiner Alp Con seit 2011 im Sport- und Bergfilmgeschäft. Seine "Cinema Tour" mit den Schwerpunkten Bike, Ski und Berg zieht sehr erfolgreich Jahr für Jahr durch Deutschland, Österreich und Italien.

Was mit drei Sälen begann, ist mittlerweile in 70 Kinos fixer Bestandteil des Filmjahres vieler Sportfilmfans. Und seit James Hallett Eigentler vor zwei Jahren anrief, gehört auch "Trails in Motion" zum Alp-Con-Portfolio. Eigentlich hätte die Tour im Frühjahr durch Österreich ziehen sollen, aber dann kam der erste Lockdown. Dass die Filmreihe jetzt, im Herbst, in Wien, einem der letzten Spielorte der Saison (die Tour endet am Mittwoch in Innsbruck), so grandios floppen würde, war nicht abzusehen.

Foto: ©privat

Am grundsätzlichen Interesse derer, die laufen, an der Nische "Trail" kann es nicht liegen, schließlich waren die Vorstellungen anderswo gut besucht. Und mein Kumpel Ed (ja, der Betreiber des Trail-Spezialshops Traildog Running in Wien-Liesing) sagt, dass viele von denen, die im Frühjahr das Laufen entdeckten, sich nun langsam aber eben doch von der Straße dem Gelände annähern: "Ich sehe ja, wer und mit welchen Vorstellungen und Voraussetzungen da in meinen Laden kommt." Und das liegt nicht nur daran, dass Trail-Laufevents zu den wenigen Laufbewerben gehören, die diese Saison doch stattfinden konnten – unter Auflagen zwar, aber eben doch: Im Wald, am schmalen Pfad ist die Gefahr der Rudelbildung auf, aber auch neben der Strecke einfach geringer.

"Vielleicht ist heute keiner da, weil morgen alle beim Lindkogel-Trail starten", mutmaßte einer im leeren Haydn-Kino (im Bild: Rene Kun ebendort am Sonntag) und glaubte es selbst schon nicht mehr, bevor der Satz zu Ende gesprochen war.

Foto: Kun

Denn auch wenn Jürgen Smrz' Lindkogel-Trail am Sonntagmorgen mit seinen sieben zeitlich getrennten Startwellen zu je 100 Läuferinnen und Läufern so rasch und so komplett ausverkauft war, dass ich als klassischer In-letzter-Minute-Anmelder keine Chance auf einen Startplatz über eine der für mich bewältigbaren Distanzen hatte, ist so ein Lauf nicht die Erklärung dafür, dass sich am Abend davor niemand ins Kino traut.

Eher im Gegenteil: Gerade weil es gerade immer mehr Menschen zum Laufen in den Wald, in die Natur, in die Einschicht zieht, hätte der Saal voll sein müssen. Nicht zwingend mit Lindkogel-Starterinnen und Startern über die Volldistanz (34 Kilometer; 1.340 Höhenmeter), aber doch den Kurz- (10 k) und MittelstrecklerInnen (21 k). Oder all jenen, die so wie ich zu lange mit der Registrierung gewartet hatten – und die dann zumindest aus und in der Komfortzone Kino ein bisserl Trail-Feeling schnuppern wollten.

Foto: Alfons Swoboda

Und dann sowieso nicht sitzen bleiben können, sondern raus wollen. Oder müssen. Egal ob auf die Straße oder ins Gelände: Davon gibt es nämlich sogar in unmittelbarer Stadtnähe jede Menge.

In Wien kommt man sogar bequem mit der U-Bahn hin – und wieder heim.

Vielleicht dreht ja irgendwann jemand einen Film über die Runde U4–U4. Die Blicke auf und über Wien würden sich nämlich auch in einem Filmpaket à la "Trails in Motion" gut machen.

Eben weil es da nicht um den Barklay, den Mont Blanc oder irgendwelche anderen Hardcore-Superstrecken geht, sondern um das, was in einem selbst passiert, wenn man läuft.

Oder anderen dabei zusieht. Aber nur manchmal. (Thomas Rottenberg, 21.10.2020)

Foto: thomas rottenberg