Eine der Festivalperlen des letzten Jahres ist Kelly Reichardts "First Cow", eine Westernrevision über zwei Freunde (im Bild John Magaro), die in einem Siedlerdorf groß aufkochen.

Foto: Viennale

Das New York Film Festival hat seine Ausgabe diesen September aus dem Lincoln Center kurzerhand in mehrere Autokinos verlegt.

Für eine Stadt, in der die wenigsten Auto fahren geschweige denn eines besitzen, ein mutiges Unterfangen – doch in Corona-Zeiten gilt es eben, ein bisschen Festivalleben zu retten.

Festival wie noch nie

Für die Viennale muss man glücklicherweise nicht den Motor starten. Im Gegenteil, die Kinos wurden auf zehn Häuser aufgestockt – neu dabei sind das Votiv, Filmcasino, Le Studio, Admiral und Blickle-Kino im 21er-Haus –, damit auch bei halbierter Besucherzahl im Schachbrettmuster genug Kapazitäten bestehen. Außerdem werden manche Filme bis zu viermal wiederholt.

Trotzdem wird vieles anders sein: keine Warteschlangen im Gartenbaukino. Keine Partys. Keine bösen Überraschungen beim Sitznachbarn (und leider auch keine schönen). Und ja, auch im Kino wird die Maske strikt aufbehalten.

Das Festival von Venedig hat vorexerziert, dass dies dem Kinovergnügen – zumindest ein Festival lang – keinen echten Abbruch tut. Wenn die Filme ihre volle Sogkraft entfalten, setzt zwar der Atem nicht aus, aber das Hier und Jetzt des Kinosaals kann schon einmal in Vergessenheit geraten.

Der fix zugewiesene Platz bringt übrigens für die Eiligeren unter uns auch Vorteile: Man kann ziemlich knapp ins Kino stürmen und bleibt hinter der Maske auch noch halbwegs anonym.

Apropos große Namen

Rund 30 Prozent weniger Filme hat die Viennale heuer im Programm. Das bedeutet freilich nicht, dass man auf Arbeiten abseits großer Namen und Festivalerfolge verzichten muss, auch wenn sich die Anzahl verringert hat.

Apropos große Namen: Hopper/Welles bringt ein Wiedersehen mit den beiden Regiegrößen Orson Welles und Dennis Hopper. Im Jahr 1970 – Hopper arbeitete gerade an The Last Movie – trafen sich die beiden zu einer langen, rauchgeschwängerten Konversation, ein großartiger Schlagabtausch über Mythologien, Erlösertum und Schaffensträume – nicht immer ernsthaft.

Womit man bei einer Reihe von Geschichtsrevisionen wäre, die aus dem diesjährigen Programm hervorstechen: vom linken US-Dokumentaristen John Gianvito, der in Her Socialist Smile das Porträt der Frauenrechtlerin Helen Keller webt, bis zum außerordentlichen Filmhybrid El año del descubrimiento des spanischen Filmemachers und Künstlers Luis López Carrasco.

Politik und Geschichte

Was wie VHS-Found-Footage über erboste Werftarbeiter aus den 90er-Jahren wirkt, entpuppt sich als brisantes Reenactment-Kino. Carrasco entlarvt mit seinem ungewöhnlichen Lehrstück die neoliberale Logik der damals sozialdemokratischen Regierung, die Spanien für die EU ökonomisch auf Kurs brachte.

Kino als Korrektur und Erweiterung eingefahrener Sichtweisen ist seit jeher auch mit dem Namen Frederick Wiseman verbunden: In City Hall porträtiert der große US-Dokumentarist das Rathaus in Boston mit seinem populären Bürgermeister Marty Walsh – ein Anti-Trump-Film in der Art, wie er Demokratie mit und für Menschen in den Vordergrund rückt, und zwar als zähes, aber lohnendes Tagesgeschäft.

Festivals, die etwas auf sich halten, halten auch zusammen. Die Viennale übertrug der im März abgesagten Diagonale eine Carte blanche, eine schöne Geste, um Highlights des heimischen Filmschaffens als Ö-Premieren ins rechte Licht rücken zu können.

Österreich im Fokus

Darunter findet sich Lisa Webers feinfühliges Porträt einer Wiener Arbeiterfamilie, Jetzt oder morgen, das von der greifbaren Nähe zu seiner arbeitslosen Protagonistin geprägt ist und trotzdem das schwer messbare Gewicht vermittelt, das an ihren Beinen hängt.

Die stilistische Bandbreite der anderen Filme ist groß: Sie reicht von Sandra Wollners faszinierend verstörendem Spielfilm über das Zusammenleben mit einem Androiden, The Trouble With Being Born, bis zu einem feministischen Filmessay wie Constanze Ruhms Gli appunti di Anna Azzori, einer Korrektur und Erweiterung von Alberto Grifis und Massimo Sarchiellis Cinéma-vérité-Film über eine gestrandete schwangere Frau in den 70er-Jahren.

Natürlich hievt die Viennale noch selbst einige heimische Filme ins Hauptprogramm, etwa Evi Romens "modernen Heimatfilm" Hochwald oder Aufzeichnungen aus der Unterwelt, mit dem Tizza Covi und Rainer Frimmel beweisen, dass Meidling in Sachen Ganoven und Strizzis früher einmal dem New Yorker Hell’s Kitchen nicht so viel nachstand.

Expertise, Vielstimmigkeit

Alte Männer mit zerzausten Frisuren durchschreiten ganz am Ende der Viennale die Wälder des Piemont auf der Suche nach weißer Trüffel. The Truffel Hunters von Michael Dweck und Gregory Kershaw ist auch deshalb ein treffender Festivalabschlussfilm, weil er von Expertise und Auslese erzählt, und davon, wie beides von der Ökonomie bedrängt wird. Bis zum 1. November wird die Viennale ihre kulturelle Rolle zu verteidigen haben: nicht als Boutique des Kunstsinnigen, sondern als Forum des Vielstimmigen.

Ein Film des Jahres sei noch genannt: The Disciple vom indischen Regisseur Chaitanya Tamhane. Er führt ins Reich der Raga-Musik, zu einem Adepten, dessen Lebenstraum sich nicht erfüllen will. Die Jahre vergehen auch so. Elliptisch und schwermütig erzählt Tamhane vom Ungefähren des Lebens – nicht jede Berufung trägt zum Glück bei.

Und ja, den muss man im Kino gesehen haben. (Dominik Kamalzadeh, 20.10.2020)