Er gehörte von Anfang an zu Schlingensiefs innerstem Schauspielerteam: Udo Kier, hier als Ex-Gangster Jablo in "Terror 2000" (1992).

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Hatte im Alter von 20 Jahren elf Filme fertig: Christoph Schlingensief.

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Hatte im Alter von 20 Jahren elf Filme fertig: Christoph Schlingensief.

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Eva Braun ist mies gelaunt. Seit Stalingrad ignoriert Hitler die Essenszeiten! Und auch sonst ist Feuer am Dach im Führerbunker. In diesen hat Christoph Schlingensief, der unnachgiebige deutsche Heimatfilmer, anno 1989 noch einmal hineingeleuchtet (100 Jahre Adolf Hitler). In der dort hausenden Grusel-WG geht die Post ab: Inzest, Ekstase, Intrige, Verrat, und Frau Goebbels verteilt Zyankali-Schokolade an ihre Kinder. Gesichter mit schrecklich geweiteten Augen tauchen ins Kerzenlicht, und dazwischen, als Found Footage hineingeschnitten, lobt CSU-Politik Franz Josef Strauß die Leistungen der Deutschen in den beiden Weltkriegen "wertneutral gesprochen", wie er sagt, als "phänomenal".

Schlingensief (1960–2010), dem die Viennale heuer rund um seinen 60. Geburtstag am 24. Oktober ein Special widmet, hat zeitlebens die Welt auf den Kopf gestellt, um die Verkrustungen einer verklärten Wirklichkeitsabbildung und eines erstarrten Geschichtsbewusstseins wegzusprengen. Die offiziell gezeigte Wirklichkeit, so der zugrunde liegende Gedanke, sei die eigentliche Inszenierung. Und an dieser hat sich der Film- und Theaterregisseur über drei Jahrzehnte lang bis zu seinem frühen Tod vor zehn Jahren geradezu atemlos abgearbeitet.

Trash-Ästhetik

Beispiele seiner Montage- und Überblendungstechniken, seiner aller Erwartung und Logik zuwiderlaufenden Erzählweisen, seiner rauschhaften Trash-Ästhetik sind nun in einer 22 Titel umfassenden Werkschau in Wien versammelt, inklusive des neuen Dokumentarfilms von Bettina Böhler, Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien, der am 6. November auch in den Kinos startet. Dieser macht das gesamte Schaffen Schlingensiefs aus seinem Filmwerk heraus nachvollziehbar. Die Filmarbeit galt ihm als Fundament, auch für die vielen Theaterarbeiten, die er ab 1993 an der Berliner Volksbühne realisierte. In Die 120 Tage von Bottrop (1997), einem Mash-up aus Pasolini-Remake, Fassbinder-Hommage und Neuer-Deutscher-Film-Abgesang, spielt dann auch die Volksbühnenmannschaft von Martin Wuttke, Sophie Rois, Leander Haußmann bis zu Frank Castorf himself mit.

Als er noch keine zwanzig Jahre alt war, hatte Christoph Schlingensief bereits elf Filme gemacht. Gedreht mit Vaters Kamera und mit beachtlichem Cast: Nachbarn, Schulfreunde, Bauern vom Dorf, Einsatzfahrzeuge, Hubschrauber – alles da. Später scharten sich die markantesten Profi- und Laienschauspieler der deutschsprachigen Film- und Theaterwelt um ihn, mit ihren expressionistischen Darstellungen haben sie Schlingensiefs Experimentalfilme sowie nachfolgende Arbeiten geprägt: Udo Kier, Alfred Edel, Susanne Bredehöft, Peter Kern, Margit Carstensen, Volker Spengler, Irm Hermann, Dietrich Kuhlbrodt, Brigitte Kausch und auch Helge Schneider, von dem oft der nicht zu knapp eingesetzte launige Soundtrack stammte.

Kaninchenkadaver und Kaninchenbraten

In diesen Filmen kommt zusammen, was nicht zusammen soll: Kaninchenkadaver und Kaninchenbraten, Hitchcock-Grusel und Swingmusik, Ku-Klux-Klan und der Innenminister – später Wagners Wotan und Namibia. Der Horror entblößt die Realität: Im Wendefilm Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) lynchen die Westler im Mercedes die Ostler im Trabi. Deutschland ist eine einzige Industriebrache, und auf ihr bietet Schlingensief den Zombies der Geschichte eine Bühne. Diese wirkt schauerlich prophetisch.

Noch lange bevor es die AfD gab, spielte 1992 zur Zeit des Kanzlers Helmut Kohl der Film Terror 2000 alles vor: Brennende Hakenkreuze erleuchten eine Provinzstadt, Asylheime werden angegriffen, die Nazis kommen, um "die germanische Kultur zu schützen". Auch Adolf Hitler "kreuzt" auf (als Hakenkreuz), und der Splatter-Albtraum nimmt seinen Lauf. "Noch ekliger, gemeiner, perverser", schrieb damals die Taz. Hitler muss "abgenützt" werden, so Schlingensief, so lange, bis von ihm nichts mehr übrig ist.

Unbekanntes Material

Die Viennale-Werkschau enthält neben Kindheitsfilmen und den kultigen Z-Pictures auch wenig bis unbekanntes Material, Skizzen und Kurzfilme, etwa den 24-Minüter Say Goodbye to the Story (2012), ein aus gestrichenen Szenen bestehender Badezimmeralbtraum voller Rätsel.

Schlingensief hat sich an der deutschen Geschichte abgearbeitet, am deutschen Kulturmythos, an der Verlogenheit des Filmens selbst und dem Potenzial des Scheiterns. Unmittelbar nach dem freundlichen Rausschmiss aus Bayreuth, wo er 2004 Wagners Parzifal inszenierte und den Segnungen deutscher Repräsentationskultur nur knapp entging, wurde The African Twin Towers ein solches Dokument des Scheiterns. Wagner-Festspiele in Namibia? Der Film über die Hybris westlicher Kultur stellt seine eigenen Widersprüche aus. Hier soll nicht wie in Fitzcarraldo das Schiff über den Berg, sondern der Berg über das Schiff gezogen werden. (Margarete Affenzeller, 20.10.2020)