Eine "unmögliche" Beziehung zwischen jüdischem Opfer und SS-Scherge: Der Film "Liebe war es nie" umkreist das Phänomen.

Foto: Langbein & Partner

Auf einem Jugendfoto Helena Citrons kommt die Anmut der jungen jüdischen Frau besonders eindrucksvoll zur Geltung. Die slowakische Kantorentochter ist fotogen. Ihre Gesichtszüge sind weich, der Schalk blitzt ihr aus den Augen. Auch verfügte "Zipora", wie ihre Leidensgenossinnen sich Jahrzehnte später erinnern, über eine besonders einschmeichelnde Gesangsstimme.

Die Zeitzeuginnen, würdige Greisinnen, sparen in dem Dokumentarfilm "Liebe war es nie" nicht mit Superlativen, wenn es um die nachträgliche Beurteilung von Citrons Anziehungskraft geht. "Sie war immer ein schönes Mädchen." – "Sie war wie ein Pfirsich." Und wäre es nicht so absurd, im Zusammenhang mit dem Überlebenskampf in Nazi-Vernichtungslagern von erotischer Rivalität zu sprechen, so müsste man von einer Logik der Überbietung ausgehen. Einmal heißt es sogar: Helena Citron sei "für die Bühne geboren" gewesen. Man empfindet, mit Rücksicht auf die Shoa, einen galligen Beigeschmack.

In Maya Sarfatys Film sieht man Papierausschnitte, die eine Art Bildersammlung von Auschwitz-Birkenau ergeben. Citron befindet sich unter den ersten tausend Frauen, die man im Lager einsperrt. Ihre Gesangsstimme bricht dem SS-Unterscharführer Franz Wunsch das Herz. Aus dem Mund des sentimental zerfließenden Schergen – er pflegte männliche Lagerinsassen auf das rücksichtsloseste zu verprügeln – hört Helena zum ersten Mal in Auschwitz das Wort "Bitte!".

Die beiden unterhalten während zweieinhalb Jahren miteinander eine sexuelle Beziehung. Als Helena an Typhus erkrankt, bewahrt SS-Mann Wunsch sie vor der Ermordung. Die Liebe des Büttels scheint aufrichtig gewesen zu sein. Citron gibt ihrerseits an, ihn mehrere Male für seine cholerischen Übergriffe an Häftlingen gemaßregelt zu haben.

Die "späte", in Tel Aviv lebende Helena Citron ist eine blendend hergerichtete, äußerst gefasste Frau (sie starb 2005). Als ihre Schwester Roza nach Auschwitz kommt, vermag Wunsch sie vor dem Krematorium zu retten. Rozas beiden Kindern kann er nicht helfen. Ob Helena ihn geliebt habe? Die Antwort fällt unklar aus. Die "erste" Liebe entzieht sich nachträglicher Beurteilung.

Verflüchtigter Erzählimpuls

Doch mit Fortdauer der Dokumentation verflüchtigt sich Sarfatys Erzählimpuls eigentümlich in alle Richtungen, obgleich das Nachspiel im Nachkrieg niederschmetternd genug ist. Der israelische Neuanfang feit die 1945 Befreite nicht vor einer Wiederbegegnung mit Franz Wunsch. 1972 wird dem KZ-Wärter in Wien der Prozess gemacht. Citron soll laut Begehr seiner Gattin zu seinen Gunsten aussagen.

Sie reist nach Wien, bewahrt die Contenance und verpflichtet sich vor den Schranken des Gerichts zu einer wägenden Beurteilung aller früheren Umstände. Ihren einstigen Geliebten, den man freispricht, würdigt sie keines Blickes. Man sieht ihn nachträglich als Greis leichtbekleidet im Gartensessel sitzen. Es reicht bei ihm im Abendrot seines Lebens dazu, im freundlichen Dialekt ein paar Unbedarftheiten von sich zu geben. Wunsch befindet sich in der komfortablen Lage, die Authentizität seiner Liebesregungen nicht in Frage stellen zu müssen. Sehr viel schöner, mit sich ausgesöhnter kann man den Herbst des Lebens nicht begehen.

Die Ungeheuerlichkeiten werden in den Zwischenräumen der Erzählung spürbar. Zwischen "Zipora" und "Roza" stehen die ermordeten Kinder der letzteren. Es kommt zum Aussprechen von Flüchen. Man sieht beide, vier Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz, im israelischen Fernsehstudio sitzen. Im Dauerlicht der Kamera zerbricht für einmal die mit so viel Mühe geglättete Fassade von Helena Citron.

Das Foto des jungen Mädchens vom Anfang kommt einem unversehens wieder in den Sinn. Über den Ausdruck der Abgebildeten hatte eine andere der vielen von Sarfaty interviewten Überlebenden – spöttisch blinzelnde Damen im Sonntagsgewand – durchaus wohlmeinend gesagt: "Sie wirkt so gerissen!" Der Satz dröhnt, zum Ende hin, kakophonisch nach. Etwas mehr Farbe hätte die israelische Filmautorin Sarfaty bekennen können. (Ronald Pohl, 21.10.2020)