Im Gastkommentar appellieren Sabine Seidler, Peter-André Alt und Pieter Duisenberg an die EU-Regierungen, nicht eine falsche Weichenstellung für Europa vorzunehmen.

Weniger Geld könnte es auch für das Erasmus-Programm geben. Dabei erlauben schon die bisher vorgesehenen Mittel nur wenigen Studierenden, mobil zu sein.
Foto: Christian Fischer

Eigentlich scheint es der europäischen Wissenschaft im Oktober 2020 gut zu gehen. In der Corona-Krise ist ihre existenzielle Bedeutung überdeutlich; die Auszeichnung europäischer Forschender mit Nobelpreisen bestätigt ihre Leistungsfähigkeit. Können sich die europäischen Wissenschafter also zurücklehnen und entspannen? Im Gegenteil: Die Wissenschaft in Europa steht vor einem Jahrzehnt fehlgeleiteter Sparsamkeit bei Forschung, Innovation und Hochschulbildung. Das gefährdet unsere zukünftige Leistungsfähigkeit.

Schmerzhafte Folgen

Zwischen dem EU-Parlament und dem Europäischen Rat wird über die Zukunft der Forschung und Hochschulbildung im mehrjährigen Finanzrahmen der EU verhandelt. Was technisch klingen mag, wird konkrete, langfristige und schmerzhafte Folgen für die gesamte Gesellschaft haben. Denn die Entscheidung wird uns bis 2028 begleiten – und durch den dann eingeschlagenen Weg sogar darüber hinaus.

Dabei ist eine ausreichend ausgestattete Forschung der Schlüssel, um erfolgreiche Lösungen für die drängendsten globalen Herausforderungen wie den Klimawandel und den Ausbau digitaler Infrastrukturen entwickeln zu können. 80 Prozent der EU-Exporte sind von technologiebasierten Industrien abhängig. Die technologische Entwicklung kann nur auf dem starken Fundament von Grundlagen- und angewandter Forschung gedeihen. Sie setzt eine Hochschulbildung voraus, die Kompetenzen für das digitale Zeitalter vermittelt: Problemlösungsfähigkeit, kritisches Denken, Kreativität.

EU hinter China

Um auf lange Sicht weiterhin in der Weltklasse mitzuspielen, sind gerade im Hinblick auf geopolitische Entwicklungen ausreichende Mittel unerlässlich. Die USA stehen hier an der Spitze, und seit 2017 hat China mit Investitionen in Forschung und Innovation von 370 Milliarden Euro die EU mit ihren 320 Milliarden auf den dritten Platz verwiesen. Es gilt, künftige technologische Abhängigkeiten zu vermeiden. Wir müssen durch eine starke eigene Wissenschaftsbasis sicherstellen, dass unsere demokratischen Grundrechte und humanistischen Werte wie Freiheit, Transparenz, Privatsphäre und offene Zusammenarbeit garantiert und weiter gestärkt werden.

Deshalb lehnen wir die Entscheidung unserer Regierungen kategorisch ab, die Mittel für die europäische Zusammenarbeit in Bildung, Forschung und Innovation zurückzufahren. Nimmt man zum mehrjährigen Finanzrahmen noch die Kürzungen im Zusammenhang mit dem EU-Wiederaufbaufonds Next Generation EU hinzu, so würden den Programmen für Studierendenmobilität und Hochschulzusammenarbeit, Forschung und Innovation zukünftig insgesamt 16,9 Milliarden Euro verlorengehen.

Weniger Mobilität

Die Stärke unseres Wissenschafts- und Innovationsökosystems beruht auf zwei Säulen: einer exzellenten nationalen Wissenschaftsbasis in Verbindung mit einer engen europäischen Zusammenarbeit. Kürzungen im EU-Haushalt lassen sich nicht durch nationale Investitionen ausgleichen. Mit den neuen Hochschulallianzen wollen die Kommission und die Mitgliedsstaaten zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen in Europa auf ein neues Niveau heben. Die Finanzierung dieser ehrgeizigen Netzwerke ist jedoch durch die Kürzungen gefährdet.

In einer Welt, die komplexer, internationaler und schnelllebiger geworden ist, brauchen wir junge Menschen mit der Fähigkeit zu kritischem Denken und der Wertschätzung für europäische und internationale Zusammenarbeit. Das Programm Erasmus+ bietet hierzu einen wichtigen Beitrag, indem es dafür sorgt, dass Studierende ihren Horizont erweitern und interkulturelle Kompetenzen erwerben können. Schon mit den bisher vorgesehenen Mitteln hätten in den nächsten sieben Jahren nur fünf Prozent aller Studierenden mobil sein können. Mit den Kürzungen würde diese Zahl noch geringer ausfallen.

"Die Kürzungen werden zu einer stärkeren technologischen Abhängigkeit führen."

Die Studie des wissenschaftlichen Dienstes der EU-Kommission "The Grand Challenge – The design and societal impact of Horizon 2020" ergab, dass jeder in die europäische Forschung investierte Euro ein Wirtschaftswachstum von 13 Euro generiert. Wer würde eine solche Investition ablehnen, mit dem Ziel zu "sparen"? Das geschieht, wenn unsere Regierungen 16,9 Milliarden Euro für die europäische Bildung und Forschung kürzen. Der Studie zufolge werden unsere Gesellschaften dadurch bis zu 200 Milliarden Euro an wirtschaftlichem Mehrwert verlieren. Die Kürzungen werden zu einer stärkeren technologischen Abhängigkeit führen und die Klimawende und das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele erheblich erschweren. Außerdem gefährden sie Qualität und Stärke unserer Grundlagenforschung, einer Schlüsselressource unseres Kontinents.

Die entscheidenden Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU sind derzeit im Gange. Noch ist es nicht zu spät, den Kurs zu ändern. Wir fordern unsere Regierungen auf, den Wert von Bildung, Forschung und Innovation auf europäischer Ebene anzuerkennen und gemeinsam mit dem EU-Parlament durch eine Rücknahme der Kürzungen die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft zu stellen. (Sabine Seidler, Peter-André Alt, Pieter Duisenberg, 21.10.2020)