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Es muss nicht immer mit Alkohol sein, Bartender und Industrie bieten Alternativen an.

Foto: REUTERS/ Pfaffenbach

Es ist elf Uhr vormittags, und Mark Livings hat sechs Negroni, drei Espresso Martini sowie vier Aperol Spritz intus. Seine Sprache ist klar. Die kurzgeschnittenen braunen Locken sitzen nach wie vor genauso gut wie das dunkelblaue Hemd und das entspannte Lächeln.

Seit acht Uhr früh erzählt der schlanke Australier, wie es dazu kam, dass er in einem Jahr und zu einer Zeit, in der die Pandemie den Großteil der Welt lähmte, seine Produkte global platzieren konnte. "Lyre’s" heißt das neueste Baby des 40-jährigen Entrepreneurs. Es ist eine Linie aus 13 alkoholfreien Spirituosen, vom Gin alias Dry London Spirit über American Malt bis zum Italian Spritz, der Bartendern ermöglichen soll, ihre Karte eins zu eins als alkoholfreie Variante anzubieten.

Im September 2020 hat Lyre’s noch 40.000 Flaschen verschifft, jetzt im Oktober sind es schon 100.000 Flaschen – der Launch am chinesischen Markt ist vollbracht. In Europa stehen nach Tschechien, Österreich, Großbritannien und den Niederlanden noch Italien, Frankreich und Spanien auf dem Programm. In Neuseeland, Australien und Singapur laufe das Werkl schon von selbst, lächelt Livings.

Überrascht ist er vom Erfolg seiner Marke nicht. Denn Livings’ Idee, alkoholfreie Spirituosen für die Welt zu produzieren, entspringt keiner Träumerei oder der besonderen Liebe zur Barkultur. Diese kam vielmehr nach eingängigen Marktanalysen und der Erkenntnis, dass er durch seine Firmenstruktur aus Marketingunternehmen und Logistikanbieter bereit für den Launch eines eigenen Produkts war. Recht flott seien sie in der Entwicklungsarbeit auf den Megatrend "Gesundheit und Wellness" gestoßen. "Dieser Lifestyle überschwemmt alle Kontinente."

Show mit ohne Enthaltsamkeiten

Menschen möchten nicht auf das Schauspiel einer Cocktailbar, das künstlerische Mixen, und das Drink-Feeling verzichten, auch wenn der Alkohol nicht auf diese Party eingeladen ist.

"Konsumenten haben Erwartungen", sagt Livings und bringt das Beispiel Coca-Cola und Coca-Cola light. Denn diese schmeckten nicht gleich, inzwischen aber überflügelten die Verkaufszahlen der Alternative die des Klassikers weltweit, so der Australier über seinen früheren Arbeitgeber. Livings’ Negroni jedenfalls, aus vier Teilen "Aperitif Rosso", drei Teilen "Italian Orange" und zwei Teilen "Dry London Spirit", schmeckt gut. Süß, aber gut.

Und anders als ein Negroni, aber auch anders als Saft. Und der schwere Bleikristall-Tumbler mit den großen Eiswürfeln liegt gut in der Hand. Definitiv besser als ein Halbliter-Saftverschnitt, die weniger attraktive Alternative. Immer mehr Menschen wollen aus den diversesten Motiven keinen oder weniger Alkohol zu sich nehmen, aber trotzdem genießen.

Foto: IDEE & PRODUKTION: Hedi Lusser; Foto & MONTAGE: Lukas Friesenbichler

Das sagt auch Kevin Koster. Diese Tendenz sei schon seit zehn Jahren in der Barkultur stark spürbar. Der Beinahe-Namensvetter des bekannten Schauspielers hat in Wien gerade seine eigene Bar eröffnet. Die Kalamansi Bar als Pop-up im Grünen Salon in Wien-Mariahilf zeigt, was Zitrusfrüchte können. In der alkoholreichen und -freien Variante.

"Dass Lyre’s eine so breite Range an Spirituosen anbietet, ist neu auf dem Markt. Es erleichtert vieles, und ich war überrascht von der Qualität der Spirits", sagt Koster. Man merke auch daran, wie große Produzenten im Hintergrund agierten, wie mächtig die antialkoholische Bewegung inzwischen sei. "Gerade hat Bacardi Martini zwei alkoholfreie Wermuts herausgebracht. Unter den kleineren Produzenten waren Ricks Gin in Österreich und Wonderleaf Gin aus Deutschland die ersten", so Koster.

Alkoholfrei zum Essen

Auch im Restaurantbereich seien alkoholfreie Getränke Thema der Stunde, sagt Herbert König. Er ist einer der Betreiber des Laufke-Restaurants in Graz sowie Obst- und Weinbauer in der Südsteiermark. Aus seiner Herkunft heraus war der erste Schritt auf der Suche nach hochwertigen Alternativen zu alkoholischen Getränken der in den eigenen Obstgarten. "Aktuell bieten wir zum Beispiel meinen Kirschsaft aus der Lage Kittenberg zum Rehrücken mit Kartoffelgratin an."

Gute alkoholfreie Menübegleitungen seien inzwischen nicht nur sehr gerne gesehen, sondern für den Gastronomen, der den Wünschen seiner Gäste gerecht werden möchte, ein Muss. Und trotzdem gibt es im Laufke keinen Bedarf an alkoholfreien Spirituosen. "Meine Säfte stelle ich im Direktpressverfahren her." Ziel sei, die Frucht so pur wie möglich ins (Wein-)Glas zu bekommen. Früchte, die zu klein für den klassischen Obstverzehr seien, eigneten sich da besonders, sagt König.

Denn diese hätten eine gute, intensive Säurestruktur. "Wir arbeiten auch für unsere alkoholfreie Begleitung mit Top-Produzenten zusammen", sagt König. So stammt der direkt gepresste Sauvignon-blanc-Saft, der zum geräucherten Karpfen mit Schwarzwurzel gereicht wird, aus dem Keller von Winzerstochter Veronika Mitteregger.

Den Wildquittensaft zum Ochsenschlepp mit Topinambur macht der bekannte Saftproduzent Werner Retter. König: "Auch alkoholfreie Getränke brauchen eine Seele und eine echte Geschichte, und die haben industriell gefertigte Produkte nun einmal nicht."

"Auch alkoholfreie Getränke brauchen eine Seele." Herbert König, Wirt, Winzer und Obstbauer

Alternative ohne Alternativen

Schnapsbrenner Hans Reisetbauer hat den alkoholfreien Spirituosen noch ganz andere Argumente entgegenzusetzen: "Also erstens wurde in den letzen Monaten in Österreich mehr Gin getrunken als je zuvor." Das belegten die Zahlen aus dem Einzelhandel. Und zweitens sei das mit den Ersatzprodukten wie veganen Würstln und Schnitzeln nämlich Augenauswischerei.

Die Idee der alkoholfreien Spirituosen sei schlicht ein geschicktes Aufspringen auf den Zug der Namen Gin, Rum und Co, bei dem man sich obendrein die Alkoholsteuer von zwölf Euro pro Liter Reinalkohol erspare. Dabei sei der Alkohol für Spirituosen unabdinglicher Geschmacksträger und Spirituosen ohne Alkohol dementsprechend nicht von derselben Qualität.

Hedi Lusser und Lukas Friesenbichler haben bekannte Spirituosen vom Alkohol befreit – zumindest die Etiketten auf den Flaschen.
Foto: IDEE & PRODUKTION: Hedi Lusser; Foto & MONTAGE: Lukas Friesenbichler

Wer ohne Alkohol genießen möchte, der solle sich doch eine lässige Bloody Mary mit weißem Tomatensaft und Schaum ohne Alkohol mixen. "Bis ich draufkomme, dass da kein Alkohol drin ist, habe ich die Bloody Mary schon ausgetrunken", sagt Reisetbauer. Und wer unbedingt einen alkoholfreien Gin-Tonic-Verschnitt haben wolle, der solle doch Limettensaft mit Wacholderwasser, Eis und Tonic dazumischen. Aber eine alkoholfreie Spirituose, die werde die Brennerei Reisetbauer wohl nie verlassen.

Patrick Marchl sieht das nicht so eng. Er ist der erste Produzent von alkoholfreiem Destillat in Österreich, dem "Rick Free". Dass es diesem an Seele fehle, sieht Marchl freilich nicht so. "Wir verwenden nur natürliche Zutaten und weder künstliche Aromastoffe noch Zucker. Einzig Zitronensäure und Kaliumsorbat, damit das Gin-ähnliche Destillat haltbar bleibt, müssen wir zufügen." Und ja, manche Botanicals wie der für Gin unabdingliche Wacholder lassen ihre Aromen erst mit Alkohol frei. Da wird im Nachhinein entalkoholisiert.

Andere, wie Zitrusfrüchte, geben ihren Geschmack auch im Wasser preis. Die Essenzen werden dann cuvetiert, also gemischt, und fertig ist Rick Free, der mit kräftigen, erdigen Noten von Wacholder und Zitrus aufwartet. Wie die Produktion im Detail funktioniert, könne man jederzeit bei ihm am Hof in der Steiermark und bald in einer Mini-Schaudestillerie im ersten Bezirk in Wien sehen. (Nina Wessely, RONDO, 25.10.2020)