Vereinte Muskelkraft und unbändiger Wille: Mit knapp 20 Jahren malte Artemisia die biblische Szene als monumentales Gemälde "Judith köpft Holofernes". Judith wird bei ihr zur Heroin.
Foto: Gabinetto fotografico delle Gallerie degli Uffizi

Sie gilt als die wichtigste Malerin des Barocks, Ikone des 17. Jahrhunderts und frühe Proto-Feministin. Sogar als "Bienenkönigin der weiblichen Befreiung" und "Beyoncé der Kunstgeschichte" wird sie bezeichnet.

Dass die große Künstlerin Artemisia Gentileschi endlich bekommt, was sie verdient, da sind sich die britischen Medien einig: Die National Gallery in London widmet ihr nun eine umfassende Retrospektive, ihre erste in Großbritannien. Die Reaktionen überschlugen sich fast: "Fantastisch", "großartig", "revolutionär", lautete der Tenor. Man fühle sich, so die Kritik im Guardian, als ob man von einem Zug angefahren werde – im positiven Sinne.

Die nur mit Artemisias Vornamen betitelte Schau bezieht sich auf den Grabstein der Künstlerin in Neapel, auf den weder das Sterbedatum noch ihr Nachname geschrieben wurde. Einfach nur Artemisia. Man werde sie schon erkennen.

Caravaggio als Einfluss

1593 in Rom geboren, war sie zu Lebzeiten international als Malerin bekannt, genoss Ansehen in Florenz und in London, wo sie zwischenzeitlich lebte. Nach ihrem Tod geriet sie in Vergessenheit, was auf ihren naturalistischen Malstil zurückzuführen ist, der aus der Mode kam.

Erst im späten 20. Jahrhundert wurde Artemisias Kunst wiederentdeckt und in der Schau Women Artists: 1550–1950 in den USA erstmals gezeigt. 2001 richtete ihr das Metropolitan Museum of Art in New York eine Schau aus. Da war sie wieder.

Wie man vergangenes Jahr in der Caravaggio & Bernini-Schau im Kunsthistorischen Museum in Wien sehen konnte, reiht sich ihr Werk selbstverständlich neben das der großen Malerfürsten ein. Ihre Motive teilt sie sich mit Tintoretto, Tizian und Caravaggio. Letzterer war ein guter Freund ihres Vaters und beeinflusste ihre Malweise schon früh.

Wer war Artemisia Gentileschi? Kuratorin der National Gallery, Letizia Treves, gibt Antworten.
The National Gallery

Distanz zu Trauma

Nach dem Tod ihrer Mutter wurde Artemisia von ihrem Vater Orazio aufgezogen. Dieser war auch Maler, und da sie – anders als ihre Brüder – keine künstlerische Ausbildung erhalten konnte, lernte sie das Handwerk von ihm.

Dass Artemisia mit nur 17 Jahren von Agostino Tassi, einem Freund Orazios, vergewaltigt wurde, gilt als einschneidendes Ereignis im Leben der jungen Frau. Die damaligen Geschlechterverhältnisse ließen Artemisia vor Gericht als Schuldige dastehen. Tassi wurde zwar verurteilt, kam aber schließlich frei. Sie floh nach Florenz, heiratete und begann als erste Frau an der Akademie der Zeichenkünste zu studieren.

Lange wurde versucht, Artemisias Werk – insbesondere ihre Motivwahl – durch ihr Trauma zu definieren. Diese Interpretation wird jedoch zunehmend von Expertenstimmen abgestritten. Auch die Kuratorin der Londoner Ausstellung, Letizia Treves, rät zu einer differenzierteren Sicht auf Werk und Künstlerin.

Kein Opfer: Selbst in "Susanna im Bade" lässt sich die belästigte Frau nichts von den Männern gefallen. Ihre Körpersprache ist eindeutig.
Foto: Kunstsammlungen Graf von Schönborn, Pommersfelden (inv. 191)

Weiblicher Blick

Die feministische Lesart von Artemisias Gemälden scheint zwar davon beeinflusst, konzentriert sich aber vielmehr auf die Darstellung ihrer Figuren: starke, brutale, leidende und sich rächende Frauen. Artemisia warf einen Blick auf weibliche Figuren, die sonst ausschließlich von Männern gemalt wurden. Wenn man so will: Die Künstlerin warf einen "female gaze" auf ihre biblischen, mythologischen und historischen Protagonistinnen.

Am frappierendsten ist dies in ihrem Gemälde Judith köpft Holofernes erkennbar, in dem sie die brutale Bibelszene darstellt: Denn anders als bei Caravaggio spritzt das Blut in fast purpurroten Fontänen aus dem aufgetrennten Hals. Die Emotion und Kraft von Judith und ihrer loyalen Gehilfin scheinen von solcher Entschlossenheit, dass man den Griff des Schwerts und die gekrallten Haarbüschel förmlich in der eigenen Hand zu spüren glaubt. Judith wird bei Artemisia zur Heldin.

Die Präsenz weiblicher Körper dominiert ihr gesamtes Werk. Egal, ob es Kleopatra, Danaë, Maria Magdalena oder auch personifizierte Selbstporträts sind, es handelt sich stets um starke Frauen. Selbst Susanna, die beim Baden von zwei Männern bedrängt wird, wird zu keinem Opfer männlicher Gewalt, sondern zur selbstbestimmten Frau: Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände. Irgendwo scheint Artemisia in all diesen Frauen zu stecken.

"Ich werde Ihrer vornehmen Herrschaft noch zeigen", schrieb Artemisia einst einem sizilianischen Mäzen, "was eine Frau alles zu können vermag." Nicht nur ihm hat sie es gezeigt. In your face! (Katharina Rustler, 21.10.2020)