Maria Gugging schlägt Wien. Im Februar 2006 erhielt der Ort bei Klosterneuburg den Zuschlag als zukünftiger Standort des Institute of Science and Technology Austria (IST Austria). Befürworter der Hauptstadtoption griffen sich an den Kopf. Man könne doch eine Forschungsinstitution, die internationale Strahlkraft entwickeln solle, nicht auf dem Land ansiedeln. Aufgrund der Nähe zu anderen Forschungseinrichtungen und des direkten Kontakts mit anderen Wissenschaftern käme nur Wien infrage.

Dieses Argument war zumindest historisch gut begründbar. Ein Blick auf die letzten 200 Jahre zeigt, dass die moderne Wissenschaft aufs Engste mit dem Entstehen der modernen Stadt verknüpft ist. Die Universität als Ort der Forschung und Lehre, die großen Kliniken, Labors, Bibliotheken und Museen, die Akademie der Wissenschaften, aber auch und gerade die industrienahe Forschung – all dies gibt es nur in der Großstadt.

Zwar wurden Astronomie, Paläontologie, Geologie, Botanik, Zoologie und andere "Felddisziplinen" oft auf der anderen Seite des Erdballs betrieben. Aber ausgewertet wurden die Daten lange ausschließlich in den Labors, Sammlungen und Rechenzentren der Metropole. "Centers of Calculations" hat der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour diese Institutionen genannt.

Fünf Jahre in London

Nach seiner Weltreise (1831–1836) verbrachte Charles Darwin erst einmal fünf Jahre in London: in den Sammlungen des British Museum (Vergleichsmaterial im Überfluss), im Zoo (wo konnte man sonst tagtäglich einen Orang-Utan beobachten?) und vor allem im innigen Austausch mit den Heerscharen an Fachwissenschaftern in den gelehrten Gesellschaften und Herrenklubs der britischen Hauptstadt, um all seine mitgebrachten Vogelbälge, Fossilien und getrockneten Pflanzenblätter einzuordnen und seine Beobachtungen zu diskutieren.

Die Stadt war also ein Knotenpunkt, in dem die Informationen aufbereitet wurden. Zwei typische Beispiele aus K.-k.-Zeiten: die Geologische Reichsanstalt (gegründet 1849) und die Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus (gegründet 1851, heute Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik), eine Forschungseinrichtung des Wissenschaftsministeriums. Alle Daten über Bodenschätze, Erdbeben und die Witterung aus der ganzen Monarchie wurden hier gesammelt und in geologische Karten und Wettervorhersagen umgemünzt.

Wissenschaftsgrätzel

In vielen Städten entstanden regelrechte Wissenschaftsgrätzel, in Wien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das "Medizinerviertel". Der Architekt Heinrich von Ferstel zeichnete nicht nur für das Hauptgebäude der Uni Wien (eröffnet 1884) verantwortlich, sondern förderte auch tatkräftig jenes sich von dort aus aufspannende gelehrte Dreieck zwischen Alser Straße, Spitalgasse und Währinger Straße. Dort befand sich bereits das (alte) AKH. 1872 kam das Institut für Chemie in der Währinger Straße, es folgten etliche medizinische Institute in unmittelbarer Umgebung. Kurze Wegzeiten für Studenten!

Ein Physikinstitut ließ sich zunächst nicht realisieren. Dafür gab es die geselligen Samstagabende im Salon des Physikprofessors Franz Serafin Exner in der Währinger Straße 29 oder das Kaffeehaus in der Türkenstraße, die nicht nur einen lebendigen Austausch förderten, sondern den Naturwissenschaftern auch das Gefühl vermittelten, einer aufstrebenden Scientific Community anzugehören.

Aufgrund dieser räumlichen Nähe und der engen Vernetzung waren die Mediziner in Wien mit die ersten, die das medizinische Potenzial der Röntgenstrahlen (entdeckt 1895) begriffen und auch nutzbar machten. Und 1910 wurde in der Währinger Straße das Radiuminstitut eröffnet, die weltweit erste Einrichtung zur Erforschung der Radioaktivität. Die Konzentration unterschiedlicher Fachrichtungen im Medizinerviertel hat mit dazu beigetragen, dass Wien um 1900 zu den wissenschaftlich weltweit führenden Metropolen zählte, insbesondere in Medizin und Physik.

Profitieren von der Interaktion

Die moderne Großstadt zeichnet sich durch die Multiplikation von Kontakten und Interaktionen aus. Und genau von dieser "Verdichtung" profitierten die Wissenschaften gleich welcher Disziplin. Wissenschaftshistoriker betonen aber, dass man den urbanen Raum nicht als bloßen "Container" für Forschung betrachten dürfe. Sie sprechen von einem dialektischen Verhältnis, in dem sich beide, Wissenschaft und Stadt, gleichsam gegenseitig hervorbringen, dadurch aber auch bedingen.

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Eduard Suess, Erfinder der Wiener Hochquellenwasserleitung: 95 Kilometer lang ist die erste Wiener Hochquellenwasserleitung nach Plänen von Eduard Suess. Sie bot die erste Versorgung Wiens mit sauberem Trinkwasser.
Foto: Picturedesk.com / Roger Viollet / Jacques Boyer

Gerade die moderne Laborwissenschaft war zunehmend personal- und ressourcenbedürftig. Vom einfachen Labordiener über wissbegierige Studenten bis zum Instrumentenbauer wuchsen die Forschergruppen. Versuchstiere und seltene Chemikalien ließen sich in der Stadt leichter besorgen, ebenso wie der Gas- und Elektrizitätsanschluss.

Die Stadt wurde in vielerlei Hinsicht selbst zum Laboratorium. Dies reichte vom Testen eines neuen Straßenbelags bis hin zum Erproben neuer Kommunikationstechnologien wie des Radios in den 1920er-Jahren. Die noch jungen Sozialwissenschaften nutzten den städtischen Raum zur Feldforschung. Arbeiterklasse, Familienstrukturen, Einwanderer – all dies ließ sich vor Ort untersuchen.

Heinrich von Ferstel baute das Hauptgebäude der Uni Wien und förderte das gelehrte Dreieck zwischen Alser Straße, Währinger Straße und Spitalgasse.
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Das Verhältnis von urbanem Raum und Wissenschaft geht noch tiefer. Die zahlreichen Probleme, die die Stadt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts produzierte – bittere Armut, Kriminalität, katastrophale hygienische Zustände, mangelnde Infrastruktur für die schnell wachsende Bevölkerung –, konnten nur mithilfe neuer Technologien angegangen werden: Seuchenbekämpfung, neue Kläranlagen, moderne Stadtplanung, öffentlicher Nahverkehr.

Bekanntestes Beispiel: Die Hochquellenwasserleitung, ersonnen vom Geologen Eduard Suess, versorgte ab 1873 die Wiener mit frischem Gebirgswasser und drückte die Typhus-Todesrate entscheidend nach unten.

Gefährliche Ideen

Das von der Großstadt gleichsam mitproduzierte Wissen hatte aber auch seine Schattenseiten und brachte Ideen und Praktiken hervor, die wir heute als gefährliche Pseudowissenschaften verurteilen: Eugenik und die Vorstellung der "Degeneration" breiter Bevölkerungsschichten, fragwürdige Intelligenztests an sozial Schwächeren wie Immigranten und die Idee des "geborenen Verbrechers". Gleichwohl, angewandtes urbanes Wissen wurde zur unabdinglichen Ressource der Modernisierung.

Und während um 1900 zwischen den europäischen Mächten zunehmend die Säbel rasselten, wuchs auf kommunaler Ebene so etwas wie eine städtische Internationale. Stadthistoriker sprechen von "transurbanem Munizipalismus". Architekten, Stadtplaner und Ingenieure besuchten sich gegenseitig, um in anderen Städten Lösungen für die heimischen Probleme zu finden. So zirkulierte urbanes Wissen europaweit und darüber hinaus.

Generierung neuen Wissens

Die Stadt ermöglichte die Generierung neuen Wissens – aber sie wurde oft auch zum Problem. Beispiel Astronomie: Im späteren 19. Jahrhundert war das Stadtzentrum nachts zu hell geworden. "Lichtverschmutzung" sagen wir dazu heute. Die Erschütterung durch den tosenden Verkehr ließ die Teleskope vibrieren. In Wien wurde die neue Sternwarte 1883 daher nicht wie ursprünglich geplant unter dem Dach des Uni-Hauptgebäudes gebaut, sondern auf der Türkenschanze (damals noch in der selbstständigen Gemeinde Währing).

Lärm, Platzmangel und ständige Ablenkungen haben so manchen Gelehrten zumindest zeitweise aus der Stadt vertrieben. 1842 zog der öffentlichkeitsscheue und ruhesuchende Darwin für den Rest seines Lebens aufs Land. Jürgen Habermas verließ 1971 das studentenbewegte Frankfurt am Main zum geruhsameren Nachdenken im beschaulichen Starnberg bei München als Direktor eines Max-Planck-Instituts. Der Elfenbeinturm als Gegensatz zur lärmenden Metropole wird wohl nie verschwinden.

Studien auf dem Landsitz

Karl von Frisch und Konrad Lorenz, beide gebürtige Wiener und Nobelpreisträger 1973, verfolgten ihre ethologischen Studien auf dem Landsitz ihrer wohlhabenden Familien. Von Frisch entzifferte die Bienensprache in Brunnwinkl im Salzkammergut, und Lorenz beobachtete Dohlen und Graugänse in Altenberg, nicht weit von Klosterneuburg, und später in einem Max-Planck-Institut in Seewiesen, nicht weit entfernt von Starnberg.

Ist die Allianz von Wissenschaft und Stadt im 21. Jahrhundert noch so eng wie in den beiden Jahrhunderten zuvor? Das IST Austria reüssierte auch in Maria Gugging. Und wächst, was in Wien womöglich eng geworden wäre. Der virtuelle Raum scheint viele Funktionen des urbanen Raums zu übernehmen. Gleichwohl gab es noch nie so viele Studierende, Wissenschafter und Forschungsstätten in Wien wie gerade jetzt.

Forschung und Technologie gelten nach wie vor als Problemlöser par excellence, auch wenn der urbane Raum heutzutage mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. In unserer Vorstellung von Modernität sind Großstadt und Wissenschaft untrennbar verwachsen. (Oliver Hochadel, 7.11.2020)