Wien hat sich gemausert.

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Wien galt lange Zeit als einer der Krisenherde der Corona-Pandemie – zumindest aus österreichischer Sicht. Im September und Oktober fand oft die Hälfte der täglich bestätigten Neuinfektionen in der Bundeshauptstadt statt. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) mahnte die Stadtregierung deshalb mehrfach, das Contact-Tracing mithilfe von Bundesstellen zu intensivieren. Dort entgegnete vor allem Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ), man habe alles im Griff.

Tatsächlich bremste sich der Anstieg in Wien im November ein. Selbst in absoluten Zahlen verzeichnete das einwohnerschwächere Oberösterreich bald doppelt so viele Fälle.

Aber wie redlich ist es überhaupt, so verschiedenartige Verwaltungseinheiten wie urbane Zentren und Flächenbundesländer zu vergleichen? Die einen sind dichtbesiedelt und haben ein größeres Potenzial für zwischenmenschliche Kontakte; die anderen sind teils ländlich geprägt, und wo das der Fall ist, passiert ein Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Menschen seltener zufällig in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Stiegenhäusern.

London, München, Berlin überholt

Deshalb haben wir die Daten für sechs ausgewählte europäische Städte herangezogen, deren Struktur und Bevölkerungsdichte mehr jenen von Wien entsprechen als die der heimischen Bundesländer: Amsterdam, Barcelona, Berlin, London, München und Prag.

In dieser Riege war Wien im Sommer, gemessen an einer Million Einwohnern, noch unterdurchschnittlich belastet. Ab September wurde der Verlauf steiler, sodass Österreichs Hauptstadt sowohl London als auch München überholte und das zuvor ähnlich stark betroffene Berlin weit hinter sich ließ. Prag, Amsterdam und Barcelona meldeten noch bedenklichere Entwicklungen.

Neben dem direkten Vergleich dieser Städte untereinander lässt sich aus den Zahlen eine weitere, womöglich noch interessantere Maßeinheit ableiten: Jede Stadt hat einen gewissen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes, in dem sie sich befindet – wenn man analog dazu die Infektionsfälle der Stadt mit der Gesamtbelastung des jeweiligen Landes gegenrechnet, lässt sich herausfinden, ob sie über- oder unterdurchschnittlich belastet ist und war.

Am Beispiel Prags lässt sich das folgendermaßen ablesen: Die blaue Linie gibt den Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung wieder. Sie beschreibt keine Kurve, weil sie in unserem relativ kurzen Beobachtungszeitraum konstant bleibt – in Prag leben 1,3 Millionen der 10,6 Millionen Bewohner Tschechiens, also etwa 12,4 Prozent.

Im Vergleich dazu war der Anteil der Corona-Infektionen und -Todesfälle Prags lange Zeit überrepräsentiert. Fast 25 Prozent der in Tschechien registrierten Ansteckungen und fast 30 Prozent der im Nachbarland mit Covid-19 verstorbenen Personen entfielen zum Höhepunkt auf die Hauptstadt. Diese Tendenz hat sich zuletzt umgekehrt – und der Anteil der Prager Fälle fiel im November sogar unter jenen Level, von dem angesichts der Einwohnerzahl auszugehen wäre.

In Amsterdam, wo der Anteil der Einwohner an der Gesamtbevölkerung der Niederlande nur rund fünf Prozent ausmacht, lagen die Infektionswerte stets über der Erwartung; während des Maximums Anfang Oktober sogar bei knapp elf Prozent. Bei den Todesfällen hingegen lag Amsterdam beständig, aber knapp unter dem Niveau des Staates (4,7 Prozent). Beide Messgrößen gehen seit Ende September zurück, zuletzt aber langsamer als noch im Oktober.

In Barcelona sinkt der Anteil an den Infektionsfällen Spaniens schon seit Anfang August – von damals rund 19 auf unter fünf Prozent Anfang Dezember. Auch der Anteil der Todesfälle verringerte sich, wenn auch nicht so stark. Beide Werte blieben im gesamten Herbst über dem der Bevölkerung entsprechenden Anteil von 3,5 Prozent.

Anders als Prag und Barcelona, deren Beitrag zu den landesweiten Infektionen einem Abwärtstrend folgt, zeigt Berlin seit August fast durchgehend dasselbe Bild. Der Infektionsanteil stieg ganz leicht an, auf aktuell rund sechs Prozent und damit über den Anteil von 4,4 Prozent, den Berlin an der Gesamtbevölkerung Deutschlands hat. Einen leichten Zuwachs verzeichnete die Stadt an der Spree auch bei den deutschlandweit Corona-bedingten Todesfällen: Mit 3,2 Prozent liegt sie inzwischen nur mehr knappe 0,8 Prozentpunkte unter dem Bevölkerungsverhältnis.

Auch in München waren die Kurven nicht sehr stark ausgeprägt – die Infektionszahlen wichen an ihrem Maximum Ende September um 1,2 Prozentpunkte und die Todesfälle gerade einmal um 0,6 Punkte vom Bevölkerungsanteil ab. Beide Werte befinden sich seit Oktober im Abwärtstrend.

Ähnlich, wenn auch auf etwas größerer Bühne, stellt sich die Situation in Großbritannien dar. Der Anteil Londons an den Infektionsfällen des Vereinigten Königreichs blieb mit einer Spitze von 11,8 Prozent dauerhaft unter dem berechneten Vergleichswert zum Staat – 13,4 Prozent – zurück. Diese Eigenschaft kann London als einzige betrachtete Großstadt für sich beanspruchen. Der Anteil an Todesfällen stagnierte bis Mitte Oktober zwischen 14 und 15 Prozent, um dann einen moderaten Abwärtstrend einzuschlagen und Anfang November ebenfalls unter den Bevölkerungsanteil zu sinken.

Wien schlussendlich sticht im Vergleich zu den anderen Städten schon durch den ausgesprochen großen Anteil an der Gesamtbevölkerung hervor: 21,4 Prozent der Bewohner Österreichs leben in der Hauptstadt. Gleichzeitig erreichte keine andere Stadt zu ihrem Höhepunkt eine größere Abweichung vom "Soll". Mit einer maximalen Rate von 36,8 Prozent aller österreichischen Covid-19-Fälle und also einer Differenz von mehr als 15 Prozentpunkten war Wien klarer Spitzenreiter unter den beobachteten Städten. Beim Anteil an den Todesfällen lag Wien zum Höhepunkt rund elf Prozentpunkte über dem erwartbaren Wert.

In der zweiten Oktoberhälfte, als die zweite Welle über Österreich hereinzuschwappen begann, wusste Wien aber offenbar das Ruder herumzureißen und mauserte sich im Lockdown bei beiden Kennzahlen vom Problemkind nahezu zum Musterschüler. Seit der letzten Novemberwoche liegen die Ergebnisse erstmals seit Sommer unter den erwartbaren 21,4 Prozent. (Moritz Leidinger, Michael Matzenberger, 12.12.2020)