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Präsident Emmanuel Macron bei der nationalen Gedenkfeier für den ermordeten Geschichtelehrer Samuel Paty.

Foto: Reuters

Die Gedenkfeier für den am letzten Freitag ermordeten Geschichts- und Geographielehrer Samuel Paty fand am Mittwochabend nicht von ungefähr in der Pariser Sorbonne-Universität statt: Dieser "Tempel des Wissens" sei ein Symbol der Aufklärung und Bildung, begründete ein Elysée-Berater die Wahl. Präsident Emmanuel Macron sagte in einer Ansprache, Paty – der posthum die Ehrenlegion zugesprochen erhielt – sei "das Gesicht der Republik".

In den französischen Medien schilderten am Mittwoch Lehrer, die wie Paty in den Vororten von Paris unterrichten, mit welchen Widerständen sie dabei selber kämpfen. Und das, ohne dass sie auch nur die umstrittenen Mohammed-Karikaturen aus dem Satireheft "Charlie Hebdo" thematisieren.

Ihr Befund ist eigentlich nicht neu: Der Chef-Schulinspektor Jean-Pierre Obin hatte schon 2004 über 60 Mittelschulen analysiert und Alarm geschlagen, weil Schüler den Unterricht mit islamistischen Thesen zu stören suchten. Sie oder ihre Eltern stellten mehr und mehr den Holocaust infrage oder verlangten Halal-Gerichte, meinte er beispielsweise. Bloß war dieser 37-seitige Bericht nie erschienen. Der damalige Premierminister François Fillon beerdigte ihn mit dem Vorwand, die Publikation könnte das Leben von französischen Geiseln im Irak gefährden.

Darwin als Feindbild

Jetzt berichten die Pariser Medien ausführlich darüber. In der Zeitung "Le Parisien" erzählten betroffene Lehrer, ohne ihren richtigen Namen zu nennen, über ihren schwierigen Banlieue-Alltag. Eine "Aurélie" schilderte, wie sie vor ihren neunjährigen Schülern über Esel, Schweine und andere Tiere gesprochen habe – um darauf eine Elternnotiz im Schulheft zu finden, sie solle ihren Schützlingen doch bitte keine "verbotenen" Worte wie "Schwein" in den Mund legen. Die Lehrerin informierte die Schulleitung nicht, da sie, wie sie sagte, in solchen Fällen "ohnehin keine Unterstützung" erhalte.

Andere Lehrer berichten, sie stießen neuerdings sogar im Geometrieunterricht auf Einwände, wenn ein Konstrukt zu sehr an ein Kreuz erinnere. Eine gewisse "Marie" erzählte, sie habe immer mehr Mühe, die Evolutionstheorie "durchzubringen". Seit September hätten Schüler schon dreimal auf der religiösen Sicht der Weltwerdung beharrt. "Was Sie sagen, ist falsch", habe ihr einer bedeutet. "Mit Ihrem Darwin brauchen Sie uns nicht mehr zu kommen."

Die gleiche Lehrerin erzählte auch, sie erhalte nach jedem Sexualunterricht Kommentare wie "Sie sollten sich schämen" oder "Ihr Franzosen steht zu sehr 'darauf'". Dabei hält sich "Marie" keineswegs für eine Verfechterin eines harten Laizismus. Als ihr eine Schülerin geklagt habe, sie würde von ihren Eltern geschlagen, wenn sie ein Biologieheft mit schematischen Darstellungen der Geschlechtsteile nach Hause bringe, habe sie als Lehrerin zugestimmt, dass das Mädchen das Heft in der Schule lassen könne.

Ende der Omertà

Der Geschichts- und Geographielehrer "Bruno" erinnerte sich, dass ein Schüler behauptet habe, die Kathedralen des Mittelalters seien von Immigranten erbaut worden. Das habe er von seinem Imam gehört. "Ich versuchte ihm vergeblich klarzumachen, dass es im Mittelalter noch keine Immigranten gegeben habe", fuhr der Lehrer fort. "Das Wort des Imams war stärker."

Die Pariser Medien sprechen nach der barbarischen Enthauptung des Lehrers Paty vom "Ende der Omertà", des Schweigegesetzes. Der Verband der französischen Geschichts- und Geographielehrer, Clionautes, gibt allerdings zu bedenken, dass sich ihre Mitglieder "weiterhin alleingelassen" vorkämen.

Dabei räumen viele Lehrer ein, dass sie den dornenreichsten Themen wie der Meinungsfreiheit und den Mohammed-Karikaturen aus dem Weg gingen. "Wir sitzen auf glühenden Kohlen", meinte eine Lehrerin in der linken Zeitung "Libération". "Man muss höllisch aufpassen, was man sagt und wie man es sagt." Das gelte vor allem bei Themen wie dem Nahostkonflikt oder dem Koran.

Vorwurf der Übertreibung

Wie repräsentativ solche Aussagen sind, ist schwer zu sagen. Zwischen September 2019 und diesem März zählten die Schulbehörden 935 Angriffe auf den Laizismus, das heißt die in Frankreich strikte Trennung von Kirche und Staat. Diese relativ überschaubare Zahl – bei 65 Millionen Einwohnern – stagniert, wie Bildungsminister Jean-Michel Blanquer diese Woche erklärt hat.

Die Dunkelziffer dürfte allerdings hoch sein. Die Rechtspolitikerin Nadine Morano erklärte, all diese kleinen Laizismusverstöße seien heute so alltäglich, dass sie gar nicht mehr gemeldet würden. Häufig wüssten die Schuldirektionen nicht, wie sie einschreiten sollten. So etwa, wenn Primarschüler den Fastenmonat Ramadan befolgten und zu geschwächt für den Unterricht seien; oder wenn verschleierte Mütter Schulausflüge begleiteten.

Diese Beispiel nennt Obin in seinem neuen Buch "Wie wir den Islamismus in die Schule eingelassen haben". Die Zeitung "Le Monde" kommentierte zufällig wenige Stunden vor der Ermordung Samuel Patys, es gelte, "die Proportionen zu wahren". Obin dramatisiere die Lage zu stark: Laut einer Umfrage von 2018 hätten nur neun Prozent der französischen Lehrer die Stimmung an ihrer Schule als "gespannt" bezeichnet.

Man könnte dagegenhalten: Dieser Prozentsatz entspricht in etwa den Banlieue-Zonen, wo der Islamismus grassiert. Dort sind die Spannungen wirklich die Norm. Und die Schulen oft die letzten Bollwerke der Republik gegen den Vormarsch der Religion. (Stefan Brändle aus Paris, 21.10.2020)