Authentizität ist die Währung unserer Zeit. Je authentischer, umso wertvoller, denn so rar. Das wahre Ich hat sich gut zu verschleiern gelernt. In der Ausbildung, am Arbeitsplatz, bei der Verabredung. Besser nicht zu viel preisgeben. Erst wenn genug Zeit vergangen ist, viel Vertrauen aufgebaut und noch mehr Loyalität bewiesen wurde, wagt sich das wahre Ich aus dem Versteck.

Nicht so in der Hannovergasse 21. Hier, in der "Boulderbar", wird es aus der Deckung gezerrt. Im Hinterhof eines türkischen Supermarkts im 20. Bezirk kann sich keiner hinter der selbstgemeißelten Fassade verstecken, wenn er vor einer Kletterwand steht und sie zu bezwingen versucht. Freude, Angst oder Frust: Verbergen lässt sich nichts, wenn man sich in die Senkrechte hantelt. Jede Emotion bricht hier hervor, unmittelbar und roh.

Vor der Wand kann sich niemand verstecken. Sie hat noch jede Fassade zum Bröckeln gebracht – egal, wie dick sie ist.
Foto: Christian Fischer

An die Wand gekuschelt

Bouldern – von Englisch "boulder" ("Felsblock") – ist das Klettern ohne Seil und ohne Gurt an Felswänden draußen oder in Hallen drinnen. Auf 1.300 Quadratmetern Kletterfläche können sich bergabstinente Städter in den Hallen der Boulderbar versuchen. Über bunte Griffe hangeln sie sich dort entlang. 4,5 Meter misst die höchste Wand. Ansonsten sind die "Routen" für die Griffe niedriger angebracht, auf "Absprunghöhe". So hält sich das Verletzungsrisiko in Grenzen, wenn man von der Wand auf die Matte abspringt – oder fällt.

"Kuschel dich an die Wand", rät der junge Mann. Die Frau, deren Füße auf zwei schmalen Noppen balancieren, umarmt mit beiden Armen einen schalenförmigen Griff. Knapp zwei Meter über der Matte hängt sie an der Kletterwand. Sie sieht hinunter mit einem Blick, als wolle sie dem Kollegen eine reinhauen. "Ich habe Höhenangst", zischt sie. Dann löst sie eine Hand vorsichtig von der gelben Schale und streckt sie zum nächsten Griff. Dann noch einmal und noch einmal. "Ich habe mich überwunden", wird sie später auf dem Boden keuchen.

Der wahre Kick

Über sich hinauswachsen – und das am besten gemeinsam. Das ist der Kick, weshalb die meisten drei- bis viermal die Woche hierherkommen. Gleich nach der Arbeit und der Uni schlüpfen sie in die spitzen Kletterschuhe, gurten sich ihren "Magnesium"-Beutel um die Hüfte, um bei Bedarf ihre schwitzenden Hände zu trocknen, und visieren all die Routen an, die sie beim letzten Besuch nicht geschafft haben.

Die einen kleben dann wie Seesterne aufgeklatscht an der Wand, Beine und Arme ausgestreckt, die anderen tänzeln von Noppen zu Noppen und drehen ihre Hüften, als handle es sich um Handtücher, die sie ein- und auswringen. Es gibt die Novizen, die ihre angespannten Unterarme massieren, weil sie das mit dem Schwerpunkt und der Beinarbeit noch nicht ganz begriffen haben – und die Profis, die sich von Griff zu Griff schwingen, als handle es sich bei den fast unmerklichen Kanten um Lianen.

Und dann gibt es noch die Celebrities, die ehrfürchtig vom Rest der Halle angehimmelt werden, wie etwa Alina Wojnar. Die 21-jährige Lehramtsstudentin für Geschichte und Sport ist Routenlegerin. Sie gehört zu den kreativen Köpfen, die jeden Montag dafür sorgen, dass die Griffe an der Wand anders angebracht sind, um die Community aufs Neue herauszufordern.

Ratschläge gibt es nur auf Nachfrage.
Foto: Christian Fischer

Corona-Verordnungen

Auch am nächsten Montag, wenn die neuen Corona-Verordnungen bereits gelten. Zwar wurden alle Kurse abgesagt, doch individuell kann man natürlich weiterhin kommen, bemaskt beim Herumgehen, unbemaskt beim Klettern. Maximal 120 Personen dürfen dann gleichzeitig, wie schon bisher, in der Halle klettern, die vor Covid-19-Zeiten für bis zu 200 Kletterer ausgelegt war.

"Jede hat schon einmal von Routen geträumt", sagt Katy und schielt hinauf zu einer Route mit gelben Griffen. Sie führt von einer Wand zur nächsten. Ohne hinzusehen, weiß sie, an welcher Stelle sie jedes Mal scheitert: Es sind die letzten drei Griffe zum Ziel. Seit zwei Jahren kommt die 25-jährige Steirerin, die internationale Entwicklung studiert, hierher – viermal die Woche für mehrere Stunden. Ihre schwarze Stoffhose ist an den Knien gerissen, ihre Schienbeine sind voller blauer Flecken. Klar sei sie schon einmal hinuntergefallen, aber davor muss man keine Angst haben: "Man muss sich trauen, sich fallenzulassen", sagt sie und lächelt darüber, ihre Leidenschaft mit einer Lebensweisheit verknüpft zu haben.

Freunde hat sie hier gefunden, Frauen wie Männer, die sie anfeuern und einander Tipps geben. Ratschläge gibt es nur auf Nachfrage. Das sagt die Kletteretikette. "Rocksplained" soll hier nicht werden. Nur wer will, dem wird auch geholfen. Genau wird vom Boden aus – natürlich bemaskt – beobachtet, was sich oben abspielt, wo jeder seinen Fuß wie gesetzt hat, um von einander zu lernen und sich etwas abzuschauen, nicht um auf wippende Körperteile zu gaffen, so wie es Katy oft im Fitnesscenter erlebt hat: "Diese Machokultur gibt es hier nicht."

Abbruch! Abbruch!

Es hat etwas von einem Drogentrip, an einem verregneten Montagnachmittag in einer hellen Halle Dutzende Erwachsene an bunten Knubbeln die Wände entlang klettern zu sehen. Als wäre es ganz natürlich für den Menschen, sich vertikal fortzubewegen.

"Stell den Fuß nach rechts oben", rät Hallenmitarbeiter Marco Frisch geduldig. Wo soll dieses "rechts oben" sein? Die Arme zittern, die Beine streiken, und das Hirn schaltet auf stur: Warum noch einmal müssen wir da hinauf, um dann wieder hinunter zu müssen, Sisyphos? Abbruch! Abbruch!

Irgendwann meldet sich der Ehrgeiz und selbst der renitenteste Seestern schafft es nach oben – und wieder nach unten. "Gut gemacht", lobt Frisch. Seit 2015 arbeitet der gelernte EDV-Fachmann in der Boulderbar, die als erste kommerzielle Kletterhalle in Wien gilt. Mittlerweile gibt es bereits vier. Als Kunde "Nummer 19" war Frisch schon 2012, als die Halle aufgemacht hat, angefixt. "Beim Fitnesscenter gehst du alleine rein, machst deine Übungen, schaltest den Kopf aus. Hier musst du ihn einschalten. Und du triffst auf Freunde. Es ist sehr gesellig", erzählt er, "und zeigt dir auch, wie die Leute in Wirklichkeit drauf sind."

Fassade rauf und runter

Die Wand ist so etwas wie das perfekte Assessmentcenter. Beruflich wie privat. Nicht umsonst schicken viele Firmen ihre Mitarbeiter nach der Arbeit zwecks Teambuilding zum Klettern. Und auch das eine oder andere Paar in spe verabredet sich in der Halle zum ersten Mal. Rasch lässt sich hier herausfinden, wie der andere reagiert, wenn es knifflig wird. Gibt die Person auf? Kauert sie eingeschnappt auf dem Boden? Oder probiert sie es noch einmal? (Solmaz Khorsand, 23.10.2020)