Ich bin Mitglied eines Laufvereins; übrigens desselben, in dem auch Rotte rennt - er leider sehr viel schneller und konsequenter als ich. In dem Verein tummeln sich, ich weiß nicht, warum, ganz überproportional viele Juristinnen und Juristen - sehr erfolgreiche dazu - nicht nur beim Laufen, sondern auch in ihren juristischen Berufen. Beim gemeinsamen Training, einmal wöchentlich, sehe ich dann, was es heißt, schnell und motiviert zu sein. Am Anfang traben wir in einer Gruppe, vielleicht 15 Personen, dann rennen mir alle davon.

Darf das, auch jetzt, weiter sein? Und, wenn ja, wie? Mit Maske oder ohne? Mit Personenhöchstzahl oder ohne? Mindestabstand? Mit oder ohne Trainer? Und so weiter.

Darf ich weiter rennen?

Das sind, in Zeiten wie diesen, sicher nicht die wichtigstem Probleme der Welt. Aber sie führen dazu, dass auch wir im Verein, und gerade die Juristinnen und Juristen desselben, sehnlich auf die "Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der die COVID-19-Maßnahmenverordnung geändert wird (3. COVID-19-MV-Novelle)" warten, die am späten Abend des 22. Oktober erscheint und, wenigstens teilweise, am 23. Oktober 2020 in Kraft tritt.

Und dann passiert, an diesem Abend, was passieren muss. Die Juristinnen und Juristen des Vereins verstehen die Verordnung unterschiedlich. Die Nichtjuristinnen und Nichtjuristen verstehen nichts. Beides ist kein Wunder. Wer will/kann denn Formulierungen wie

"20. Nach § 8 Abs. 1 wird folgender Abs. 1a eingefügt:

‚(1a) § 2 Abs. 1 gilt nicht

1.bei der Ausübung von Sportarten, bei deren sportartspezifischer Ausübung es zu Körperkontakt kommt,

2. für kurzfristige sportarttypische Unterschreitungen des Mindestabstands im Rahmen der Sportausübung sowie

3. bei erforderlichen Sicherungs- und Hilfeleistungen.

§ 2 Abs. 1a gilt nicht bei der Sportausübung. Dieser Absatz gilt auch für die Sportausübung an öffentlichen Orten.‘“

verstehen? Und dann entscheiden, ob denn der Laufverein nun wie gewohnt weiter trainieren darf, ob Personenhöchstzahlen gelten, Maskenpflicht besteht, Präventionskonzepte zu erstellen sind (von wem?) und so weiter?

Laufen wird zur Juristenfrage.
Foto: Nikolaus Forgó

Das Einzige, was man, vielleicht, gleich versteht, ist, dass man in den Duschen keine Masken tragen muss. Es heißt nämlich in Nr. 19 der Verordnung:

"'19. Dem § 8 Abs. 1 wird folgender Satz angefügt:

' § 2 Abs. 1a gilt nicht in Feuchträumen.'"

Also keine Masken in den Duschen.

Zumindest sind wir digital

Will man aber wirklich verstehen, was da sonst noch steht, muss man die Novelle neben die bisher geltende Fassung der Verordnung legen und dann mühsam, Satz für Satz, vergleichen, was wie verändert wurde (und dann noch auslegen, anwenden, et cetera). In der Novelle steht nämlich nicht, was gilt, sondern nur, was anders gilt als bisher.

Das ist nicht nur bei dieser Verordnung so, sondern das ist in Österreich immer so. Es fällt nur, im "Normalfall" nicht auf, weil es im "Normalfall" auf Stunden nicht ankommt und niemand gebannt auf das Erscheinen einer Norm wartet. Dann haben Spezialistinnen und Spezialisten Tage/Wochen/Monate - niemand weiß so genau, wie lange es jeweils dauern wird - Zeit, ihrerseits die alte und die Veränderungsnorm nebeneinander zu legen und daraus einen Kunsttext zu machen - Juristinnen und Juristen sprechen dann von einer "konsolidierten Fassung".

Nur: So eine konsolidierte Fassung gilt gar nicht, es gibt sie eigentlich, wenn es hart auf hart kommt, gar nicht. Authentisch - verbindlich - ist nur die Fassung im Bundesgesetzblatt. Und die sieht dann so aus wie oben. Oder auch so:

"8. In § 6 Abs. 1a Z 2 wird der Wortfolge „aus Personen“ das Wort „ausschließlich“ vorangestellt."

Authentisch - verbindlich - ist nur die elektronische Fassung des Bundesgesetzblattes. Das ist so, weil Österreich im Jahr 2003 rechtssetzerische Avantgarde war (mindestens in Europa). Damals, im November 2003, wurde ein Gesetz über das Bundesgesetzblatt 2004 erlassen. Ein Metagesetz also. Whatever you do, I can do meta, sagt manchmal auch der Gesetzgeber.

In diesem Bundesgesetzblattgesetz heißt es in § 7 

"(1) Die im Bundesgesetzblatt zu verlautbarenden Rechtsvorschriften sind im Internet unter der Adresse

www.ris.bka.gv.at

zur Abfrage bereit zu halten. Jede Nummer des Bundesgesetzblattes hat auf diese Adresse hinzuweisen."

Das war im Jahr 2003 revolutionär.

"Die amtliche Fassung eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung enthält nach geltendem Recht nur die Papierausgabe des Bundesgesetzblattes, das vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz herausgegeben wird und über die Bundesanzeiger Verlag GmbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, bezogen werden kann.", heißt es zum Beispiel heute noch in Deutschland. Und in vielen anderen Staaten erscheint das geltende Recht weiterhin nur auf Papier; oft auch noch kostenpflichtig.

Das Gesetz über das Bundesgesetzblatt gilt hingegen seit 2004 und es gilt noch heute. Es wurde übrigens im Jahr 2020 anlässlich der Covid-19-Gesetzgebung schon novelliert. Es enthält viele Bestimmungen, die an Informatik interessierten Juristinnen und Juristen ob ihrer Rätselhaftigkeit seit 2004 Freude machen. So heißt es etwa in § 8 Abs. 1:

"§ 8.  (1) Die Dokumente, die eine zu verlautbarende Rechtsvorschrift enthalten, müssen ein Format haben, das die Aufwärtskompatibilität [??!!] gewährleistet. Sie müssen in einem zuverlässigen [??!!] Prozess erzeugt worden und mit einer [einfachen??!!] elektronischen Signatur versehen sein."

Vor allem aber enthält das Bundesgesetzblattgesetz die Bestimmungen, was im Bundesgesetzblatt zu erscheinen hat - zum Beispiel die uns hier interessierende Verordnung; verbindlich, ausschließlich elektronisch, für jedermann unentgeltlich zugänglich.

Was nun allerdings seit 2004 verabsäumt wurde - warum eigentlich? - ist, auch im Bundesgesetzblatt zu realisieren, was in jeder Textverarbeitung - und erst Recht in jeder Programmierumgebung - selbstverständlich ist: dass unterschiedliche Versionen unmittelbar erkennbar sind und, wer will, die letztgültige Fassung im Volltext sofort erkennen kann - ohne Übereinanderlegen, ohne Konsolidierungsprozess, der unbestimmt lange dauert, fehlertanfällig ist, und so weiter. Informatisch ist das keine Hexerei, im Zeitalter, in dem Regierungen, wenn nicht gerade Corona ist, von Blockchain, künstlicher Intelligenz und digitaler Souveränität reden.

Das RIS modernisieren!

Man kann spekulieren, warum das nicht geschehen ist. Die Antwort liegt, vermutlich, in einer Mischung aus fehlenden Ressourcen, juristischer Technologieferne, Zementierung juristischen Herrschaftswissens und österreichischer Larmoyanz; das zu vertiefen, ist hier nicht der Ort.

Das Defizit führt aber dazu, dass die ohnehin überall und seit Längerem beklagte Unübersichtlichkeit und Unklarheit der Covid-19-Normierung sich buchstäblich bis in die Whatsapp-Gruppen meines Laufvereins hinein ausbreiten kann, weil nicht einmal mehr die Juristinnen und Juristen rasch und fehlerfrei erkennen, was denn nun überhaupt im neuen Text steht - es kennt sich auch deshalb niemand mehr aus. Die Verwirrung beginnt schon vor der Interpretation bei der Suche, was überhaupt auszulegen ist.

Vielleicht könnten wir (wer?) dies zum Anlass nehmen, das RIS endlich weiter zu modernisieren. Wer möchte, findet dazu sogar ein einschlägiges Versprechen im Regierungsprogramm (S. 222). Dort heißt es:

"Zugang zu Rechtsinformation erheblich verbessern, indem das Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS) zu einer intelligenten
Plattform RIS+ weiterentwickelt wird, die intelligente Such-, Aggregations- und Visualisierungsfunktionen bietet (unter Beibehaltung der Gebührenfreiheit)"

Ich weiß zwar auch hier nicht genau, was damit gemeint ist. Aber vielleicht verbirgt sich hinter den schönen Formulierungen das Ziel einer authentischen Fassung des geltenden Volltextes einer Norm in einem für Menschen ohne Weiteres lesbaren Format. Das wäre doch schön.

PS: Die Domain RIS+ (und ein sehr interessantes Projekt dazu) gibt es übrigens schon (und gab es schon zum Zeitpunkt der Regierungserklärung)  - als Privatprojekt meines überaus begabten Mitarbeiters Paul Eberstaller. (Nikolaus Forgó, 23.10.2020)

Nikolaus Forgó, geboren 1968 und aufgewachsen in Wien, Studium der Rechtswissenschaften in Wien und Paris, 2000-2017 Professor, Datenschutzbeauftragter und CIO an der Uni Hannover, seit 2017 Vorstand des Instituts für Innovation und Digitalisierung an der Uni Wien.

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