"Ein genuin österreichisches Produkt ist der Harem eines Baumeisters, in dem Frauen nach Tieren benannt werden.

Foto: Reiner Riedler

Gerne sehen wir das Land, "unser schönes Land", als einheitliches großes Ganzes mit eigenständiger Kultur, verschmitzter Lebenskunst und sublimen Manieren. Aber diese Erzählung ist ein Märchen.

Wie man weiß, erfolgt das Branding der Marke Österreich im Wesentlichen über Alpen- und Kaiserkitsch und über ein paar Labels in der Sparte Musik wie Mozart, Sängerknaben, Neujahrskonzert, Edelweiß, Falco.

Abgesehen von diesen Stereotypen, für die man Österreich in aller Welt liebt, glänzt das Land durch einige weitere endemische Talente, erkämpfte Kompetenzen und etliche Beute-Errungenschaften.

Der Mix daraus produziert ein heterogenes kulturelles Gefüge in fortwährendem Wandel und Widerspruch, das sich touristisch schwer vermarkten ließe, weil es zu sehr polarisieren würde: neben Opernball auch Life Ball und Regenbogenparade, Conchita, Bilderbuch und Hader, Handke und Jelinek und außer Klimt und Schiele auch noch West und Nitsch, um nur einige zu nennen. Die mag man mögen oder nicht, aber sie sind da, und sie sind repräsentativ.

Die EU-Kommission wünscht Österreich mit diesem kurzen Video das Beste zum Nationalfeiertag.

Österreich ist Kreisky, die Kopftücher von Musliminnen, von Christine Lavant und von Andreas Gabalier, das Pferd von Waldheim, die Kälte eines Herrn Kurz gegenüber Geflüchteten. Österreicher waren der Braunauer und der Ohlsdorfer, die Fackel und die Gratiszeitungen und ein Video aus Ibiza. Dem Reichtum an Paralleluniversen und Subkulturen entspricht ein Reichtum an Panoramen, Kulissen und Potemkin’schen Fassaden.

Inszenierte Peinlichkeit

Ein genuin austriakisches Produkt ist auch der Harem eines pensionierten Baumeisters, in dem Frauen nach Tieren benannt werden, und dieses Konzept der inszenierten Peinlichkeiten funktioniert über Jahrzehnte hinweg als gut geölte Werbemaschinerie für einen mediokren Glitzertempel.

Bei solcher Diversität im Lande ist es nicht erstaunlich, dass das maskulinisierte Parlament nach kurzem Einsatz einzelner weiblicher Persönlichkeiten zu der Einsicht gelangte, dass in Österreich nicht nur eine Vielfalt an kulturellen Eigentümlichkeiten und sozialen Auffälligkeiten herrscht, sondern auch an Geschlechtern.

Die Erkenntnis, dass demnach hierzulande auch Frauen leben, hat wie selbstverständlich dazu geführt, dass sie einen Platz in der Hymne zugewiesen bekamen, gleich nach den Äckern und Hämmern, zukunftsreich! und noch vor den Söhnen. Das war bereits im Jahre 2011.

UHBP sagte vor einiger Zeit, so seien wir nicht, und das wirft die Frage auf, wie wir sind und wer wir sind. Österreichisch sind jedenfalls der Schmäh, die Gemütlichkeit und der Grant, nationale Qualitäten, die nach mehrheitsfähigem Konsens als immaterielle Kulturgüter gelten könnten.

Grant als Weltkulturerbe

Besonders letztere Eigenart wird in den berühmtesten der altehrwürdigen Kaffeehäuser landauf, landab gepflegt, eine Aufgabe, der sich das männliche Personal hingebungsvoll widmet. Vermutlich werden die alten Grantscherben in den grindigen Anzügen demnächst den Preis für die übellaunigsten Kellner der Welt abräumen.

Mit dieser prestigeträchtigen Auszeichnung können sie vielleicht den Weltkulturerbestatus retten, den die Wiener Grünen aus bisher unverständlichen Gründen so leichtfertig aufs Spiel setzten.

Oder die Ober werden unter Artenschutz gestellt, bevor sie endgültig aussterben. Denn in Zeiten hyperliberaler Profitmaximierung wird die Vielfalt dem Mammon geopfert, diese einzigartige Attraktion ist bedroht und wird zunehmend ersetzt durch junge, stets lächelnde, stets freundliche, frisch geduschte und vermutlich sehr viel billigere Zuwandererinnen.

Delikatessen ausländischer Herkunft

Endemische Gattungen aus Küche und Keller sind Mohrenköpfe, Mohrenbräu und Mohr im Hemd, Indianer mit Schlag, Schwedenbomben, Zigeunerschnitzel, Negerküsse und Negerbrot.

Sie beweisen, dass die Ortsansässigen dem Fremden und Ausländischen gegenüber durchaus aufgeschlossen sind. Neuerdings nennt man diese kulinarischen Hochgenüsse "lecker", eine Bezeichnung, die erst in jüngster Zeit illegal über die Nordgrenze eingewandert ist.

Allzu herzlich aufgenommen wurde sie nicht, sie begegnet mancher Fremdenfeindlichkeit, aber ausweisen kann man sie auch nicht, sie lässt sich nicht einfach wieder dorthin zurückschicken, wo sie hergekommen ist, sie bleibt einfach da.

Weitere landestypische Spezialitäten, die man an jeder Straßenecke finden kann: Coca-Cola, Pizza, McBurger, Kebab, Falafel, Sushi, Frozen Joghurt, Smoothies. Die ausländische Herkunft dieser Delikatessen bekritteln nicht einmal die rechtspopulistischen Politiker und ihre Anhänger, gehören sie doch zu deren Grundnahrungsmitteln und beweisen ihre hohen Ansprüche als Feinschmecker.

Das Wiener Schnitzel wiederum ist eines mailändischen Migrationshintergrundes verdächtig, vermutlich war es ein Wirtschaftsflüchtling, weil es in Italien, wo man Geschmack und Gesundheitsbewusstsein hat, nicht überleben konnte.

Und die Buchteln sind – wie andere Süßspeisen auch – Asylwerberinnen aus Böhmen, die gnädig aufgenommen wurden. Niemand kann behaupten, dass man hierzulande nicht immer schon ein Herz für Geflüchtete hatte, wenn diese ihren Nutzeffekt für die alteingesessene Gesellschaft beweisen.

Einheimische Ware

Und welche Erzeugnisse sind nun genuin österreichisch? Wo kann man solche beziehen? Am Naschmarkt vielleicht? Der urwienerische Nahversorger im Feinkostbereich ist inzwischen eine Zufluchtsstätte der letzten noch verbliebenen Multikulti-Anhänger.

Bekanntlich erinnern die Dächer der Stände seit der Neugestaltung im ausgehenden 19. Jahrhundert an die türkische Kioskarchitektur, die ihrerseits ihre Formensprache dem Zelt verdankt. Zugleich ist er der berühmteste Grünmarkt, der kaum Grünwaren verkauft, sondern mutmaßlich das weltgrößte Sortiment an Trockenfrüchten.

Die Machtsphäre dort teilen sich Immigranten der ersten Generation, vornehmlich Männer, slawisch-, türkisch- oder arabischsprachig. Auf ihren Buden stapeln sie Zentner von Wasabi- und Haselnüssen, von Sonnenblumen- und Kürbiskernen und Tonnen von getrockneten Feigen und Datteln.

Das ist alles sehr dekorativ und bunt und bedarf des Feingefühls im Herrichten. Die Betreiber scheinen sich wohlzufühlen in Gesellschaft von Touristen und Schaulustigen, die nur staunen und nichts kaufen.

Wovon leben die eigentlich? Selten verirren sich Anrainer auf den Naschmarkt, sie sind entschlossen, die Entwicklung auszusitzen. Seit Corona herrscht sowieso oft gähnende Leere. Auch österreichische Kunden gibt es kaum noch, sie hängen allenfalls in einem der Lokale ab, ihren Einkauf erledigen sie anderswo, zum Beispiel in einem der umliegenden Supermärkte. Dort finden sie endlich die garantiert zertifizierte einheimische Ware.

Klaviatur der Empfindlichkeit

Um nicht den Vorwurf eines Kulturessentialismus zu provozieren, soll noch ein Blick in die Geschichte geworfen werden. Schützenhilfe kommt vom Ethnologen und Autor Richard Schuberth, der in einem Essay (Die Presse, 15. 6. 2019) von "der vielleicht einzigen gemeinsamen Eigenschaft dieses bizarren Staatsvolkes" spricht, nämlich "einer adoleszent-ängstlichen Xenophobie, die immer in Gesellschaft mit Minderwertigkeitsgefühlen, Verhaltensunsicherheit und der Angst, zu kurz zu kommen, auftrat".

Nicht zu vergessen sind daher einige herausragende Persönlichkeiten, die auf der Klaviatur von derlei Empfindlichkeiten zu spielen wussten. Österreich blickt zurück auf eine lange Reihe von politischen Ausnahmetalenten, denen man zugejubelt hat und zum Teil bis heute zujubelt: Metternich, Franz Joseph, Dollfuß, Hitler, Haider, Grasser, Strache, Kurz.

Auch wenn die Geschichte sie allesamt entzaubert hat, beziehungsweise noch entzaubern wird, applaudiert wird ihnen allemal. Unsere Helden lassen wir uns ungern vom hegemonialen Zeitgeist wegdiskutieren.

Wo es eine Vorschrift gibt, gibt es auch einen Weg, sie zu umgehen.
Foto: Reiner Riedler

Irgendwie geht es immer

All das hat Österreich bisher ausgehalten. Irgendwie geht es immer. Auch darin gibt es eine lange Tradition. Der Herr Karl (Helmut Qualtinger und Carl Merz) hat vorgezeigt, wie man sich in der leidenden Mitläuferrolle weinerlich zurechtfinden und dabei durchs Leben jonglieren kann.

Man kann es sich richten hierzulande, eine Kompetenz, die die Österreicher verbindet, die hier lebende Ausländer bewundern – oder die sie verachten. Denn anderswo ist man sehr viel mehr darauf trainiert, auf sich selbst gestellt zu sein. Wir hingegen haben es von der Pike auf gelernt, es ist historisch gewachsenes Wissen.

Wo es eine Vorschrift gibt, gibt es auch einen Weg, sie zu umgehen. Schon die Vorfahren im Metternich’schen Überwachungsstaat waren geübt, es sich in einer Nische unauffällig gemütlich zu machen.

Heute noch sind wir der Monarchie zu Dank verpflichtet, denn damals konnten die Altvorderen das Situationselastische proben und über Generationen weitergeben.

Im Ständestaat haben die Erben weiter an der Fertigkeit gefeilt, im "Tausendjährigen Reich" wurde sie zur Meisterschaft perfektioniert. Allenfalls in der Nachkriegszeit war’s ein bisschen schwierig, es gab wenig Geld, wenig zu essen und viel Schutt wegzuräumen. Nur die Jeunesse dorée konnte damals sicher sein: "Der Papa wird’s schon richten." (Gerhard Bronner)

Aber dann kam, quasi historisch zwingend, die Sozialpartnerschaft, für die man das kleine Österreich vielerorts bewunderte. Jetzt wurde es richtig kuschelig. Experten aus aller Welt reisten an, um das System zu studieren. Das war eine Phase, in der wir stolz sein konnten. Die Epoche der Insel der Seligen hatte begonnen.

Unter Kreisky wurde der Staat endgültig zum Vater Staat, der’s richtet – ein paternalistisches System, das diejenigen schützte und schirmte, die sich verständig zeigten und bei jeder Wahl das Kreuz im richtigen Kreis einzeichneten. Und jetzt?

Zurück ins Biedermeier!

Gehuldigt wird einem, den sein Studium langweilte. Es schlägt gerade wieder die Stunde der Heldenverehrer. Denn bei der ganzen Vielfalt und dem hochwertigen Angebot ist eines auf der Strecke geblieben: das Autochthone.

Deswegen suchen wir jetzt in all dem Importierten und Vermischten das Reine und Unverfälschte, unser Ureigenstes, unsere Wurzeln. Und wenn wir sie nicht finden, dann erfinden wir sie eben. Deswegen spazieren Lederhosen und Dirndln nun auch durch Wien, St. Pölten und Eisenstadt. So wird Kulturgeschichte gemacht.

Und nachdem Heimat wieder in Mode kam, erwachten sogleich einige krypto-rechte Schläfer, und Intellektuelle aus der Kulturschickeria schämen sich nicht mehr ihrer Links-rechts-Schwäche.

Im Übrigen wollen wir uns die alljährlichen, lustig rassistischen Faschingsauftritte nicht länger madig machen lassen, im Fasching fällt Rassismus unter Gaudi. Im Fasching wenigstens will man sagen dürfen, was man denkt.

Austriakisches Substrat

Bloß ist auch das nicht so richtig bodenständig. Die Lobpreisung des Nationalen ist kein Gift, das nur im Inland verspritzt wird, sondern als Globalisierungskollateralschaden ein transnational übergreifendes soziopolitisches Phänomen und Werkzeug der bedeutendsten Demagogen der Zeit.

Das Eskalieren von Lokalchauvinismen allein in Rot-Weiß-Rot wäre nicht denkbar ohne das tatkräftige Zutun von Le Pen, Orbán, Trump und Co, Bolsonaro und Duterte, und wie sie alle heißen mögen, samt ihren Vorläufern und Mitläufern.

Und dann kam so ein mutmaßlich illegales Video und hat all das Erreichte in wenigen Tagen hinweggefegt. Dabei gilt doch die Unschuldsvermutung. Aber gelernte Österreicher wissen, dass Videos von Balearen-Inseln als erstklassiges Kabarett vom Publikum honoriert werden müssen, deswegen darf der Hauptdarsteller weiter politisch aktiv sein. Große Männer braucht das Land.

Aber es kam noch dicker, es kam Corona und vermischt sich harmonisch mit Ibiza. Das Unterste wird zuoberst gekehrt und offenbart einureigenes austriakisches Substrat von Verheimlichen, Schweigen, Mauern, Vergessen. Und es zeigt sich: Egal ob Türkis mit Blau oder Grün koaliert – wieder zelebrieren Wendehälse stolz ihre politische Beweglichkeit.

Politisch flexibel

Jetzt konvertiert man von liberal zu konservativ oder vollzieht eine 180-Grad-Volte von Grün nach Türkis. Gemeinsam wird Covid-19 in die Schranken verwiesen – unter einem grünen Gesundheitsminister, auf Kosten der individuellen bürgerlichen Freiheiten und unter Missachtung der Verfassung.

Offen bleibt die Frage, warum die liberalen und linken Parteien und Institutionen kaum Persönlichkeiten hervorbringen, die mit Ideen und Visionen nach vorn preschen. Vielleicht veraltet und bröckelt das Parteiensystem, wie einst das Kaiserreich zerbröckelt ist. So wird eben der erfolgreiche nationalistische Kurs von Türkis-Blau unter Türkis-Grün fortgeführt.

Waren und Urlaube sollen gefällig aus dem Inland stammen und im Inland konsumiert werden. Dabei kann Österreich kaum die Hälfte des Bedarfs an Obst und Gemüse aus heimischer Landwirtschaft decken. Man will kein Geld in die Welt hinaustragen, aber durch Exporte und Touristen so viel wie möglich von dort hereinbekommen.

Wie das funktionieren soll, ist nicht Teil der Kommunikationsstrategie. Und die konservativen Politiker würden sich eher die Zunge abbeißen, als in ihren Reden auch die im Lande lebenden Ausländer zu begrüßen. Aber alles nicht so schlimm: Schließlich werden zahlreich und manierlich #BlackLivesMatter-Demos frequentiert.

So sind wir. Das Eigenständige: ein Konglomerat aus Gewachsenem, Gebrachtem, Gefundenem, Geraubtem. Die Lebenskunst: dem Neid zum Opfer gefallen. Bloß die Manieren, die sind wirklich sublim, auch wenn Handkuss, Handschlag und Bussi-Bussi inzwischen von Corona abgeschafft wurden. (Ingrid Thurner, 26.10.2020)