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Über zehn Jahre ist es her, dass zuletzt ein Roman des britischen Autors Ian McDonald auf Deutsch erschienen ist, nachdem er in den 90ern in den heimischen Buchläden gut vertreten war. Jetzt endlich kommen wir auch hier in den Genuss dessen, was mittlerweile als sein Hauptwerk gelten darf: Eine Reihe voneinander unabhängiger Nahzukunftsromane aus der vermeintlichen Peripherie.

Die in Afrika angesiedelte "Chaga"-Saga hatte McDonalds Ausrichtung auf postkoloniale SF bereits in den 90ern vorbereitet, mit "River of Gods" ("Cyberabad") und Indien als Schauplatz lieferte er 2004 sein Meisterstück ab. Es folgten 2007 Brasilien ("Brasyl") und 2010 die Türkei ("The Dervish House") – hoffentlich werden die jetzt auch noch übersetzt. Ironischerweise ist McDonald inzwischen von seinem großen Themenschwerpunkt der Nuller Jahre vorerst abgekehrt: Letztes Jahr veröffentlichte er mit "Planesrunner" einen Young-Adult-Roman um einen Jungen, der durch parallele Welten slidet.

"Angriff auf die Sinne"

Zuvörderst: Nicht aufgeben! "Cyberabad" verlangt einem gleich zu Beginn so einiges ab, wenn wir in eine Welt hineingeworfen werden, die an Detailfülle kaum zu überbieten sein dürfte. McDonald selbst hat Indien als "Angriff auf die Sinne" bezeichnet, und diese Erfahrung reicht er gnadenlos an uns weiter. In den Eröffnungspassagen werfen wir anhand des Wegs einer Leiche, die den Ganges hinuntertreibt, einen ersten eingeschüchterten Blick auf ein monumentales Panorama, das von seinen Kontrasten lebt. Wo Lagerfeuer vor den Gaswolken transnationaler Aufbereitungsanlagen lodern und uralte Bauten den Glaspalästen von New Varanasi gegenüberstehen. Straßen beginnen im einen Jahrtausend und enden in einem anderen – einer der Hauptreize, die die Atmosphäre des Romans ausmachen.

"Cyberabad" hat die Terminus-Dichte eines Cyberpunk-Romans ... nur dass hier zu all den Begriffen für fiktive Zukunftstechnologien und Modemarken noch eine Lawine an Hindi-Wörtern kommt. Das geht bis zur totalen Reizüberflutung und wird vor allem dann zur Herausforderung, wenn mit Thal erstmals ein sogenanntes Neut die Bühne betritt: Ein chirurgisch zur Geschlechtslosigkeit umgestalteter Mensch, der als Personalpronomen ys und als Possessivpronomen sys verwendet – das erste Kapitel, in dem all diese Faktoren zusammentreffen, wird man am besten langsam und behutsam lesen.

Für die zahllosen Begriffe aus dem indischen Alltag und der Hindu-Mythologie gibt es am Romanende übrigens ein umfangreiches (und dennoch unvollständiges) Glossar. Von hektischem Hin- und Herblättern würde ich aber eher abraten, weil es den Lesefluss zu sehr unterbricht. Apsaras von Yakshas unterscheiden zu können, ist nicht so wichtig und vieles ergibt sich ohnehin aus dem Zusammenhang. Am besten ist es, sich ganz und gar dem Flow zu ergeben.

Zum Setting

Mit 2047 hat McDonald ein symbolisches Datum gewählt. Es ist das 100. Jubiläum von Indiens Unabhängigkeit, doch ist der Riesenstaat mittlerweile in mehrere – immer noch große – Nationen zerfallen. Eine davon ist Bharat am Unterlauf des Ganges, eine dynastische Demokratie unter der Regentschaft einer Familie, die starke Parallelen zu den Gandhis aufweist. Der Monsun ist seit langem ausgeblieben und mit den Nachbarn zeichnet sich ein Krieg ums Wasser ab, doch das ist nur eines der Handlungselemente.

Wir treffen auf neue Brahmanen, durch Gentechnik auf Langlebigkeit gezüchtete "goldene Kinder" mit gruseliger Anmutung. In den Sundarbans genannten Daten-Oasen werden Künstliche Intelligenzen von immer höherer Selbstständigkeit ausgebrütet – im Rest der Welt sind diese Kaihs streng verboten und selbst in Bharat macht man auf die allerintelligentesten unter ihnen kompromisslos Jagd. Im Erdorbit wird ein Milliarden Jahre altes Artefakt entdeckt und schlussendlich wäre da noch ein Unternehmen, das eine neue Methode der Energiegewinnung entdeckt, indem es Universen mit unterschiedlichen Grundzuständen anzapft. Kurz: Hier rauscht's im Karton.

Das Ensemble

Trotz all dieser Ideen sind es aber die Menschen, die McDonald in den Vordergrund stellt. Jede(r) aus dem knappen Dutzend an Protagonisten wird als glaubwürdiger Charakter geschildert. Jeder hat seine eigene Sprache und jeder hat auf seine Weise mit seiner Rolle bzw. Identität zu kämpfen. Wie Vishram Ray, Spross einer reichen Unternehmerfamilie, der es sich in Europa als Stand-up-Comedian und Womanizer gut gehen lässt. Bis er von der Familie zurückgerufen wird und neue Qualitäten an sich entdeckt.

Der berühmte Ernst des Lebens wird auch das Neut Thal, ein naiver, vergnügungssüchtiger Schmetterling vor dem Herrn, verändern – Mr. Nandha hingegen kennt ihn schon, und zwar mehr als gut für ihn ist. Als Krishna-Cop macht er Jagd auf illegale Kaihs; ihn lernen wir bei der "Exkommunikation" einer "besessenen" Fabrik kennen – ein Motiv, das an viele klassische SF-Plots erinnert. Nandha hat – ohne deswegen als unsympathische Figur rüberzukommen – sein Berufsleben wie auch sein privates pedantisch durchorganisiert, was nicht zuletzt seine Ehefrau Parvati in die Vereinsamung treibt. Derweil glaubt der brutale Straßengangster Shiv zu Höherem berufen zu sein und der Regierungsberater Shaheen Badoor Khan fürchtet den tiefen Fall, weil er eine gesellschaftlich inakzeptable sexuelle Vorliebe für Neuts hat.

Wissenschaft verschmilzt mit Mythologie

Zwei der Hauptfiguren kommen aus dem "Westen", beide sind Wissenschafter. Evolutionsbiologin Lisa Durnau wird von der NASA zu einem Asteroiden gebracht, in dem man einen nicht von Menschen gebauten zellulären Automaten entdeckt hat. Und der, obwohl älter als das Sonnensystem, zeigt Lisas Gesicht. Plus das ihres ehemaligen Kollegen Thomas Lull, der seit Jahren von der Bildfläche verschwunden ist. Gegenwärtig lässt Lull sich durch Indien treiben, wo er auf die seltsame junge Frau Kij trifft, die offenbar mit Maschinen kommunizieren kann.

Lisa, Thomas und Kij wird zwar nicht mehr Erzählraum als den anderen Figuren gewährt, doch sind sie am unmittelbarsten mit den Handlungsteilen verbunden, die die eigentlichen SF-Elemente von "Cyberabad" enthalten. Für die McDonald Informationstechnologie und indische Mythologie in wirklich überzeugender – und rein wissenschaftlicher – Manier verschmilzt: Der für unsere Denkweise ausgesprochen fremdartige Götterhimmel des Hinduismus, in dem all die schwindelerregende Vielfalt an Hierarchien und Manifestationen letztlich nur Ausdruck eines Einzigen ist, erweist sich als taugliche Versinnbildlichung einer anderen Art des Seins und Denkens ... wie die Kaihs sie darstellen. Einmal mehr erinnern wir uns an den sprachlichen Ursprung des Worts Avatar.

Unbedingte Empfehlung

Wenn die Journalistin Najia Askarzadah einmal darüber sinniert, wie sich auf einer Landkarte die großen Beschriftungen (wie sie z.B. für Länder stehen) hinter der Fülle an punktuellen Details zu verstecken scheinen, dann entspricht dies der Anlage des Romans: Zwischen all den unzähligen Einzelpunkten der Handlung liegt – und bewegt sich – etwas, das zu groß und zu subtil ist, um gleich gesehen zu werden. Manchmal kreuzen sich die Wege der ProtagonistInnen im gewaltigen Mosaik von "Cyberabad", manchmal bleiben die Bezüge nur indirekt. Keiner von ihnen hat einen Gesamtüberblick, und es kann vorkommen, dass sich Geschehnisse in einem Kapitel erst im nächsten durch eine veränderte Perspektive erklären.

SF-Autor Christopher Priest, der "Cyberabad" als "John Brunners 'Stand on Zanzibar' für die digitale Generation" bezeichnet hat, brachte es auf den Punkt: It is not a page-turner book; it is a turn-page-back book. Aber ein grandios lesenswertes.