Foto: Heyne

(Anmerkung: Diese Rezension wurde ursprünglich im November 2016 geschrieben.)

Alastair Reynolds, einstmals ein Eckpfeiler im SF-Programm von Heyne, ist nach mehrjähriger Pause zurückgekehrt – und zwar mit Karacho! In seinem jüngsten Roman, dem zusammen mit seinem britischen Landsmann Stephen Baxter geschriebenen "The Medusa Chronicles", ist noch die Druckerschwärze feucht, und schon liegt die deutsche Übersetzung vor (kommt in der nächsten Rundschau). Zeitgleich ist nun endlich auch das umfassende Zukunftspanorama "Blue Remembered Earth" auf Deutsch erschienen. Das darauf aufbauende "On the Steel Breeze" ist für März unter dem Titel "Duplikat" angekündigt.

Gleich der Prolog von "Okular" führt uns vor Augen, wie sehr wir Reynolds vermisst haben. Im Osten Afrikas stoßen die beiden Geschwister Geoffrey und Sunday Akinya auf einen vergrabenen Panzer mit Künstlicher Intelligenz: ein Relikt aus einem Zeitalter, als es noch Kriege gab. Es ist ein stimmungsvoller Einstieg, in dem sich das Ende der Kindheit und damit auch der Unschuld andeutet.

Sicherheit durch Überwachung

Für die Haupthandlung springen wir ein Stück in die Zukunft. Geoffrey und Sunday sind mittlerweile – wir schreiben die 2160er Jahre – erwachsen, gelten aber immer noch als die Sorgenkinder ihrer Familie. Denn während der übers ganze Sonnensystem verstreute Akinya-Clan eines der mächtigsten und innovativsten Wirtschaftsimperien seiner Zeit leitet, gehen die beiden ihren Hobbys nach und wollen mit der Firmenpolitik nichts zu tun haben. Geoffrey etwa studiert Elefanten, führt ein Einsiedlerleben und reagiert auf Kontakte aus dem geldversessenen Teil der Verwandtschaft ausgesprochen griesgrämig – was überhaupt seine grundlegende Einstellung zur Welt zu sein scheint. Aber er wird sich noch wandeln.

Sunday indes lebt in der Überwachungsfreien Zone auf der Rückseite des Mondes: einem anarchistischen Sammelbecken kreativer Geister und gesellschaftlichen Experimentierfeld, in dem die Wahrung der Privatsphäre an oberster Stelle steht. Ganz anders als im Rest des Sonnensystems, insbesondere auf der Erde – der Überwachten Welt. Die Obligatorischen Implantate merzen kriminelle Neigungen im Gehirn, soweit erkennbar, schon von Kindheit an aus. Den Rest erledigen die Myriaden Kameraaugen des Mechanismus, der jede potenzielle Bedrohung eines Menschen vorausberechnen und fast immer auch beseitigen kann. "Wir leben zwar alle in einem totalitären Staat, aber es ist fast immer eine freundliche, wohlwollende Diktatur. Sie erlaubt uns nahezu alles, ausgenommen Opfer von Unfällen zu werden und Verbrechen zu begehen."

Die Reise beginnt

Eines Tages ereilt Geoffrey die Nachricht, dass seine Großmutter gestorben ist. Eunice Akinya legte einst den Grundstein des Familienimperiums: Eine Visionärin und Pionierin ... auch wenn Geoffrey sie eher als kalte und gebieterische Schreckschraube in Erinnerung hat, die sich nicht um ihre Enkelkinder kümmerte und die letzten Jahrzehnte ihres Lebens allein in einer Mini-Raumstation um den Mond kreiste.

Geoffreys Cousins fürchten, dass die systemweit berühmte Firmengründerin eine Leiche im Keller liegen haben könnte. Sie haben nämlich von der Existenz eines Schließfachs in einer Bank auf dem Mond erfahren und wollen Geoffrey nun dafür bezahlen, dort einmal nachzusehen. Da er unter chronischem Geldmangel leidet, willigt er nolens volens ein – auch wenn er bislang kaum seine tansanische Heimat verlassen und höchstens von der Möglichkeit des Chingens Gebrauch gemacht hat, einem Bewusstseinstransfer in robotische Ersatzkörper an anderen Orten. Jetzt aber heißt es in Fleisch und Blut auf Reisen zu gehen.

Es ist der Beginn eines Trips, der Geoffrey und bald auch Sunday an die verschiedensten Orte führen wird, ob Mond, Mars, Phobos oder darüber hinaus. Geleitet werden sie dabei stets von kryptischen Hinweisen, die Großmutter Eunice ihnen hinterlassen hat (als erstes übrigens den Handschuh eines alten Weltraumanzugs). Kurz gesagt: "Okular" hat die Struktur einer guten alten Schnitzeljagd! Und während sich die beiden von Etappenziel zu Etappenziel weiterhangeln, dürfen sie – und wir mit ihnen – rätseln, welches Geheimnis Eunice da vor der Öffentlichkeit verbergen wollte.

Die neue Welt

"Okular" weist einige unverkennbare Parallelen zu Kim Stanley Robinsons "2312" auf (und ist wie dieses ein wenig gar lang geraten, aber zum Glück weniger prätentiös). Es ist eine Rundreise durchs Sonnensystem, voller Gedanken über Technologie und Kultur, Evolution, Klimawandel und Politik. Wir lernen in allen Facetten eine Zivilisation kennen, die sich vom Erbe unseres Zeitalters erholt hat – wenn auch um den Preis der allumfassenden Überwachung und mit neuen Machtkonstellationen: Europa und Nordamerika werden hier kaum erwähnt, die neuen kulturellen und technologischen Großmächte sind China, Indien und vor allen anderen das vereinigte Afrika. Zudem verläuft eine Trennlinie zwischen den bisherigen Staaten und den Vereinten Wasser-Nationen, die auf künstlichen Archipelen entstanden sind.

Der Besuch in einer solchen Wasserstadt voller genetisch veränderter Menschen ist ein spektakuläres Highlight des Romans. Andere originelle Ideen sind beispielsweise Geoffreys cybertelepathische Kommunikationsversuche mit einer Elefantin oder das Evolvarium: ein sich selbst überlassenes evolutionäres Schlachtfeld auf dem Mars, auf dem selbstreplizierende Roboter sich im Überlebenskampf ständig weiterentwickeln. Menschen beobachten diese "Robot Wars" vom Rand aus und schöpfen brauchbare Innovationen, die die Roboterevolution hervorbringt, gewinnbringend ab. Und auf der Mondoberfläche liegt die gute alte ISS herum – mittlerweile ein Restaurant.

Zurücklehnen und genießen

Reynolds versteht es, uns diese Reise genießen zu lassen – wie Geoffrey es bei seiner zeitweiligen Rückkehr zur Erde tut: Er war vollkommen damit zufrieden, sich auf dieser Parkbank zurückzulehnen und mit den Augen den sechs Gitarrensaiten des Weltraumaufzugs zu folgen, die sich himmelwärts schwangen und wie zur präzisen Demonstration einer Fluchtpunktperspektive im Nichts zusammenliefen. Gondeln glitten wie meniskusförmige schwarze Öltropfen an den Drähten auf und ab. Brandungswellen brachen sich mit niemals endendem monotonem Schlagzeuggeschmetter an der Seemauer der Halbinsel. Möwen schossen durch sein Blickfeld, blendend weiße vogelförmige Fenster in eine andere, reinere Schöpfung.

Die wahren Abenteuer sind eben im Kopf, man muss sie nur zu erzählen verstehen. Dazu passend ein Gespräch zwischen Sunday und einer virtuellen Konstruktion ihrer Oma über die langen Weltraumaufenthalte in den frühen Tagen der Raumfahrt: "Wie habt ihr euch ... die Zeit vertrieben?", fragte Sunday. "Ich nehme an, ihr konntet euch nicht einfach nach draußen chingen." – "Wir hatten eine andere Form des Chingens", sagte Eunice. "Eine Frühform der virtuellen Realität, die viel robuster und von Zeitverzögerungen vollkommen unberührt war. Du hast vielleicht davon gehört. Wir nannten es 'Lesen'."