Sein Schuhgeschäft in Gramatneusiedl musste Karl Blaha zusperren. Nun hat das AMS zumindest eine Jobgarantie für ihn.

Foto: Robert Newald

Soll der Staat aufhören, zehntausende Menschen zum AMS zu schicken, und stattdessen für alle staatlich finanzierte Jobs schaffen, weil das besser für Betroffene und die Gemeinschaft ist? Diese Frage steht im Zentrum eines neuen Pilot-, und Forschungsprojektes, das vom AMS Niederösterreich in Gramatneusiedl im Oktober gestartet wurde. Wenn alles nach Plan läuft, könnten die Erkenntnisse aus dem Experiment eines Tages um die Welt gehen und vielleicht sogar die Art und Weise beeinflussen, wie wir mit Arbeitslosen umgehen.

Ob es dazu kommt, hängt davon ab, wie es Menschen wie Karl Blaha in den kommenden Monaten ergeht. Blaha, 52 Jahre, groß gewachsen, mit Glatze, gehörte das gleichnamige Schuhgeschäft in Gramatneusiedl. Sein Urgroßvater hatte das Geschäft 1900 gegründet, über den Großonkel und Vater kam der Betrieb, den er 20 Jahre leitete, an ihn.

Heute sind die Holzregale im Geschäft so gut wie leer, ein paar Schuhkartons und Schuhe stehen herum, allerlei Figuren, die früher hier auch zum Verkauf angeboten waren. "Das Geschäft war schon lange nicht mehr profitabel", erzählt der frühere Inhaber. Mit den großen Mitbewerbern und ihren billigen Angeboten gab es kein Mithalten, das Ende kam dann mit dem Erfolg des Onlinehändlers Amazon, erzählt Blaha. 2018 musste er zusperren.

AMS-Feldversuch

Als Geschäftsführer war er versichert und ist seither beim AMS. Er hat sich zig Mal um eine Stelle bemüht, bei einem Schuhgeschäft beworben, als Produktvertreter, als Sicherheitsmann, als Experte für Löschtechnik – Blaha ist Kommandant bei der freiwilligen Feuerwehr. Alles vergeblich. "Sie sind 52 Jahre alt", hat man beim AMS gesagt. "Das wird schwer. Die Betriebe wollen 30-Jährige."

Blaha ist einer von 70 Arbeitslosen in Gramatneusiedl, die fix beim AMS-Feldversuch mitmachen. Das Arbeitsmarktservice will allen Langzeitbeschäftigungslosen im Ort drei Jahre lang ein garantiertes Wiedereinstiegsangebot machen. Zwei Dinge sind dabei neu.

Das AMS fördert auch in anderen Projekten den Wiedereinstieg von Jobsuchenden, greift hier aber etwas tiefer in die Tasche als sonst üblich. Wenn eine Gemeinde oder ein Unternehmen einen der Gramatneusiedler Langzeitarbeitlosen einstellt, bietet man an, drei Monate alle Kosten zu übernehmen. Für weitere neun Monate werden zwei Drittel der Arbeitskosten gedeckt.

Die zweite, größere Neuerung, die auch für die Begleitforschung die entscheidende Rolle spielt: Das Angebot soll in den kommenden drei Jahren allen Langzeitarbeitslosen im Ort gemacht werden, also auch jenen, die es noch werden. Das Projekt wird von Wissenschaftern der Universitäten Wien und Oxford begleitet. Niemand muss eines der Jobangebote annehmen, die Verpflichtung ist ausgesetzt, eine Garantie verträgt sich nicht mit Zwang.

Das Konzept selbst kommt aus den USA. Hinter der Idee steckt der Kerngedanke, die Verantwortlichkeiten in der Arbeitsmarktpolitik umzudrehen. Derzeit liegt es an den Jobsuchenden selbst, einen Job zu finden. Sie bekommen Arbeitslosengeld, im besten Fall gute Qualifizierungsangebote und sind verpflichtet, zu suchen und sich zu bewerben. Bei der Jobgarantie ist es der Staat, der zusagt, Arbeitsplätze zu finden oder zu schaffen.

Zum zweiten Mal ein Laboratorium

Dass seine Gemeinde nun zum Laboratorium wird, freut Thomas Schwab besonders. Der 50-Jährige ist Bürgermeister in Gramatneusiedl. Der Ort sei kein Krisenhotspot, erzählt Schwab, seit gut 20 Jahren wachse die Gemeinde kräftig, viele Städter zieht es wegen der guten Anbindung zu Wien, das keine halbe Stunde per Zug und Auto entfernt ist, hierher. Einen Strukturwandel gibt es dennoch.

Zusätzlich zum Verschwinden kleinerer Geschäfte hat der deutsche Konzern Evonic seine Kunststofffabrik im Ort vor drei Jahren geschlossen. 150 Menschen verloren ihre Stelle.

Manche ungelernten Arbeiter aus der Fabrik seien bis heute arbeitslos, sagt Schwab. Das AMS-Projekt biete Menschen eine neue Chance. Einfach wird es nicht. Bürgermeister Schwab kann sich vorstellen, eine Pädagogin als Springerin für die beiden örtlichen Kindergärten aufzunehmen. Ob sich mit seinem Budget mehr ausgeht, sei unsicher, irgendwann laufen die AMS-Förderungen ja aus.

Bei Unternehmen passende Jobs zu finden wird noch schwieriger. Österreichweit gibt es 150.000 Langzeitarbeitslose, die Zahl hat sich binnen zehn Jahren verdoppelt. Jeder Dritte in der Gruppe leidet an gesundheitlichen Einschränkungen. Gut 40 Prozent sind älter als 50, diese Gruppe ist Altersdiskriminierung ausgesetzt. Wer lange vom Jobmarkt weg ist, tut sich schwer damit, eine Struktur im Alltag einzuhalten. Auch das wissen Unternehmer.

Ausgiebig erforscht wurde genau das vor fast 100 Jahren in Gramatneusiedl. Hier liegt die berühmte Marienthal-Siedlung, ein Arbeiterwohnheim, das zu einer gleichnamigen Textilfabrik gehörte. Als die Fabrik 1929/1930 infolge der Weltwirtschaftskrise zusperrte, wurde der Ort mit einem Schlag arbeitslos.

Eine Gemeinschaft aus der historischen Arbeitersiedlung in Marienthal. Die gleichnamige Fabrik sperrte 1930 zu.
Foto: Bildersammlung Marienthal, Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz

Ein 15-köpfiges Team rund um die Sozialwissenschafter Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda untersuchte die sozialen Auswirkungen dieser Katastrophe. Die Studie wurde unter dem Titel "Die Arbeitslosen von Marienthal" 1933 veröffentlicht. Im Nationalsozialismus war weder für die meist jüdischen Autorinnen noch für die kritischen Thesen der Studie Platz.

Nach der Übersetzung ins Englische in den 1970er-Jahren wurde die Marienthal-Studie zum Klassiker der Sozialforschung. Die zentrale Erkenntnis lautete: Inaktivität führt zu politischer und gesellschaftlicher Apathie. "Unbegrenzte Zeit, die keine Struktur hat, ist keine Freizeit, sondern eine ungeheure seelische Belastung", fasste Jahoda die Erkenntnisse zusammen. "Sie zeigt Menschen nur, dass nichts, was sie tun, einen Wert hat."

Unbegrenzte Zeit wird zur Qual

Die Symbolkraft des Ortes ist ein Grund dafür, dass der Chef des AMS Niederösterreich, Sven Hergovich, das Programm in Gramatneusiedl testen lässt. Die Arbeitersiedlung von einst steht noch, die Wohnhäuser wurden erneuert. Im Ort gibt es auch ein empfehlenswertes Museum über die Studie und die Fabrik von einst.

Mit den Zuständen von damals hat die heutige Situation der Arbeitslosen nichts gemein. Jobsuchende sind inzwischen sozial abgesichert. Die Marienthal-Studie zeigte, wie Arbeiter nach der Werkschließung Hunde und Katzen essen mussten, um zu überleben. Dass Arbeitslosigkeit auch zu Langeweile und sozialer Ausgrenzung führt, hat sich im Grunde nicht verändert. "Die Decke fällt einem auf den Kopf", sagt der frühere Schuhverkäufer Blaha.

Die Begleitforschung der Universität Oxford zum AMS-Projekt konzentriert sich darauf, den Nutzen der Jobgarantie zu erheben. Viele Arbeitsmarktprogramme lassen sich nur schwer evaluieren, weil Förderangebote meist nur an Teile einer Gruppe ergehen. Werden besonders motivierte Jobsuchende für ein Programm ausgewählt, bleibt oft die ungeklärte Frage zurück: War die Maßnahme gut, oder hat sie nur für diese Teilnehmer funktioniert?

Kontrollgruppe in Niederösterreich

Die Jobgarantie in Gramatneusiedl umgeht dieses Problem, indem sie sich an alle Langzeitarbeitslosen richtet. Die Forscher bilden zusätzlich eine Kontrollgruppe aus ähnlichen Jobsuchenden in Niederösterreich, für die es keine Garantie gibt.

Dann wird verglichen: Wie entwickelt sich die Zahl der Arbeitslosen, wie hoch sind die Kosten? Jobs zu fördern ist teurer, kann sich aber auszahlen, wenn damit dauerhafte Beschäftigung entsteht. Soziologen der Uni Wien werden sich zusätzlich ansehen, wie sich die Sozialkontakte und das Wohlergehen der Teilnehmer verändern.

Herr Blaha steigt im Februar in das Programm ein. Er sei auch bereit, etwas Neues zu machen, etwa handwerklich zu arbeiten. Ein Neustart mit 50 plus ist nicht unmöglich.(András Szigetvari, 25.10.2020)