Tatjana Schnell ist Associate Professor am Institut für Psychologie an der Universität Innsbruck.

Foto: Florian Lechner

STANDARD: Vermeintliche Sicherheiten sind für viele Menschen dahin. Auch wer nicht die Arbeit verloren hat, steht vor neuen Bedingungen, bangt um Perspektiven. Bricht eine neue Zeit der Sinnsuche an?

Schnell: Da muss man vorsichtig sein. Das Thema der Sinnsuche war in der letzten Zeit so dominant, dass Menschen stark unter Druck stehen, weil sie keinen Sinn erkennen. Sinn wird auch oft verwechselt, etwa mit Weltretten. Tatsächlich geht es um die Frage des Menschen nach dem Warum seines Tuns, nicht darum – was oft suggeriert wird – noch perfekter zu sein. Sinnfragen zu stellen heißt immer, Sachzwänge und Notwendigkeiten infrage zustellen. Aus der Forschung wissen wir aber auch, dass es eher gesund und motivierend ist, seine Arbeit sinnvoll zu finden.

STANDARD: Da immer intensiver gesucht wird, scheint er aber zunehmend schwerer zu finden ... Warum?

Schnell: Effizienzmaximierung hat vielerorts den eigentlichen Inhalt der Arbeit, den Grund, aus dem sie gewählt wurde, irrelevanter gemacht. Das, worum es geht, hat letztlich mit der eigentlichen Arbeit wenig zu tun, also etwa in der Pflege: Möglichst effizient waschen, Listen abhaken. Diese Phänomene ziehen sich durch alle Branchen nach den Leitmotiven Effizienz, Quantität, Profit.

STANDARD: Ein Irrweg? Schlägt das menschliche Sinnbedürfnis zurück auf den Turbokapitalismus?

Schnell: Das würde ich liebend gerne so sehen! Jedenfalls ist ein großes Bewusstsein da, dass der Status quo den meisten Menschen nicht guttut. Die Mehrheit der Menschen hat nichts Erfüllendes davon. Es stellt sich also die Frage nach der Alternative.

STANDARD: Und da tun sich Eliten leichter mit dem Graben nach Sinn. Das hat in den vergangenen Jahren auch etwas Schickes gekriegt ...

Schnell: Ja, klar. Eliten können downshiften, also weniger arbeiten, auf Geld verzichten, ihren Sinn in anderen Tätigkeiten, in kultureller Beschäftigung, finden. Darum geht es ja auch in der Diskussion um ein Grundeinkommen. Sinnvolle Arbeit sollte für alle möglich sein. Es hat eine große Spaltung stattgefunden. Aus der Forschung wissen wir, dass 50 Prozent sagen, sie sehen einen Sinn im Leben. Von den anderen 50 Prozent sagen viele, sie haben keinen und brauchen ihn auch nicht. Sie fühlen sich ohnmächtig, glauben an Wissenschaft und Technik und übernehmen selbst wenig Verantwortung.

STANDARD: Eine Kapitulation vor der Herausforderung, Sinn zu suchen?

Schnell: Ja – und da gibt es ein strukturelles Problem. Menschen mit niedrigerer Bildung sind stigmatisiert. Menschen mit Migrationshintergrund ebenso, sie tauchen nicht auf in der gesellschaftlichen Gestaltung. Sie haben keinen Platz und werden nicht gehört. Die Eliten sprechen, die anderen nicht.

STANDARD: Auch Arbeitslosigkeit ist noch immer ein Stigma, oder?

Schnell: Definitiv ist das so. Die Gründe für die Arbeitslosigkeit sind allerdings ein Faktor: Wir sehen, dass es Menschen, die durch Covid ihren Job verloren haben, besser geht – es ist leichter, die Verantwortung auf die Pandemie zu schieben, das ist eher auszuhalten. Die Fragen nach dem Sinn sind deswegen aber nicht weniger schmerzhaft. Es geht eigentlich ja darum: Wer bin ich als Mensch? Abseits vom Beruf, was ist mein Lebenssinn? Diese Fragen zu stellen ist gar nicht einfach. Um draufzukommen, was ich will und warum ich es will, da muss ich tief schürfen. Das braucht Raum und Zeit. Natürlich wäre theoretisch eine Arbeitslosigkeit ein guter Zeitpunkt, ein guter Anlass, genau diese Fragen zu stellen und zu beantworten – wenn wir bloß nicht so gefangen wären. Wenn sich allerdings früher Tragendes als wirklich kaputt herausstellt, wir das akzeptieren und diese Sinnfragen stellen, dann entsteht Stabilität aus Zerstörung, etwas Neues, das trägt. Menschen, die durch solche klärenden Prozesse gegangen sind, sagen Sätze wie "Früher wurde ich gelebt, jetzt lebe ich". Es ist ein Prozess, der uns die rosarote Brille abnimmt. Existenzielle Philosophen haben das, was sich da abspielt, als eine gute Angst beschrieben. Es ist auch ein Abschied vom Glauben, dass wir es schaffen, wenn wir uns nur genug anstrengen. Das stimmt ja nicht, es sind wesentlich Fragen des Systems. Diese Sinnfindung ist eine Veränderung, die schmerzhaft ist. Anders lässt es sich nicht beschreiben.

"Sinn braucht Bedeutsamkeit, Zugehörigkeit, Orientierung und Kohärenz, also Stimmigkeit."
– Tatjana Schnell
Foto: Florian Lechner

STANDARD: Da versuchen offenbar viele Unternehmen, uns zu "beschützen", uns solches Leid zu ersparen. Es ist sehr populär, seinen Mitarbeitern Sinn "zu geben". Oder zumindest damit zu werben als zentraler Punkt im Employer-Branding.

Schnell: Manager können ihren Angestellten keinen Sinn geben. Das ist Hybris und Arroganz. Aus Studien wissen wir außerdem, dass sinnvolle Arbeit ein zweischneidiges Schwert ist und in Selbstausbeutung münden kann. Das erkennen natürlich viele Firmen und nutzen es aus, durch niedrigere Entlohnung. Wir sehen eine strukturelle Abwärtsspirale, in der Entgelt für die Arbeit durch ein unternehmerisches Sinndogma erodiert wird. Branchen, in denen viele Frauen arbeiten, sogenannte systemrelevante Berufe, sind dafür ein gutes Beispiel. Wenn ich als Mitarbeiterin wirklich ernst genommen und wertgeschätzt werde, dann wäre das schon ein guter Anfang für Sinn im Erwerbsleben.

STANDARD: Sie machen in Ihren Forschungsarbeiten vier Kriterien für den sogenannten Purpose, das Sinnempfinden aller Menschen, fest. Welche? Und was steckt dahinter?

Schnell: Zuerst ist es die Bedeutsamkeit, im Englischen treffender das "Mattering". Das bedeutet zu erleben, dass mein Handeln Resonanz, Relevanz hat. Viele Menschen erleben das nicht, Stigmatisierte und Ausgegrenzte wie Arbeitslose oder behinderte Menschen sowieso häufig nicht. Dann ist es die Zugehörigkeit. Da geht es nicht um die Anzahl der Freunde, die ich vorweisen kann, sondern um das Spüren, um die Gewissheit: Es ist gut, dass ich da bin, ich habe meinen Platz auf dieser Welt. Wer Zugehörigkeit nicht spüren kann, beginnt oft dort, wo es dann möglich ist, laut zu schreien – Verschwörungstheoretiker und Hasspostings sind dafür ein Beispiel. Dann braucht es noch die Orientierung. Das bedeutet, ich habe eine Richtung, ich bin kein Schiff, das ohne Möglichkeit zum Steuern treibt. Orientierung ist in einer Welt mit so vielen Optionen schwierig. Wer keine Orientierung hat, sagt auch schwer Nein, und das führt zu noch mehr Orientierungslosigkeit. Schließlich ist noch die Kohärenz ein Kriterium, also die Stimmigkeit, die Passung. Das hat auch große Relevanz im Arbeitsleben, da ergeben sich häufig Widersprüche im Job, wenn die eigenen Werte im Widerspruch zu den Anforderungen stehen, wenn für mich nicht stimmig ist, was ich zu tun habe, wenn ich den Sinn nicht sehen kann.

STANDARD: An Produkten mitarbeiten, von denen ich glaube, dass sie nicht gut sind für uns, für den Planeten? Menschen Aufträge oder Befehle geben, von denen ich weiß, sie wollen oder können sie nicht erfüllen?

Dieser Text ist im Magazin Der Standard Karriere am 15. 10. 2020 erschienen.

Schnell: Beispielsweise, ja. Aber es gibt so viele Widersprüche, etwa wenn ich eine Arbeit mache, die einen strikten Dresscode verlangt, und ich dafür eine Menge Kleidung kaufen muss, obwohl ich das eigentlich gar nicht will, schon gar nicht möglichst billige Klamotten, die unter Produktionsbedingungen entstanden sind, die ich nicht okay finde. Widersprüche tun sich aber in eigentlich allen Feldern auf, in denen wir im Leben unterwegs sind, wir haben so viele Möglichkeiten und (vermeintliche) Anforderungen, dass eine Menge Inkohärenzen entstehen können, die den Sinn zerstören.

STANDARD: Widersprüche lassen sich aber bestimmt nie gänzlich auflösen in einem Leben. Geht es um den Abschied von der Illusion?

Schnell: Sinnsuche auf existenziellem Niveau ist ein Abschied von der positiven Illusion, alles schaffen zu können – zu müssen. Das ist auch eine Befreiung. Zu wissen, was ich will und warum ich es will, ist Klarheit – nach einem, wie gesagt, oft langen anstrengenden und schmerzhaften Prozess. Die Fragen nach dem Warum und dem Wie des Erwerbslebens sind ein Teil der Antworten. (Karin Bauer, 25.10.2020)