Mit dem Bus von einer Kleinstadt nach New York: Ziel Schwangerschaftsabbruch. Sidney Flanigan (links) und Talia Ryder in Eliza Hittmans Spielfilm "Never Rarely Sometimes Always".

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Die Nominierung der strikten Abtreibungsgegnerin Amy Coney Barrett für den U.S. Supreme Court verleiht Never Rarely Sometimes Always gerade Aktualität. Die US-Regisseurin Eliza Hittman folgt in ihrem Spielfilm den Strapazen der 17-jährigen Autumn (Sidney Flanigan), die ungewollt schwanger wurde. Da in ihrer Kleinstadt in Pennsylvania keine legale Hilfe zu erwarten ist, bricht sie mit ihrer Cousine mit dem Bus nach New York auf, wo eine Abtreibung ohne elterliche Zustimmung möglich ist.

Hittman beschreibt in ihrem auf der Berlinale prämierten Film mit viel Feingefühl die Unannehmlichkeiten der Teenager und skizziert zugleich die Solidarität unter Frauen, ohne ins Fahrwasser eines Problemfilms zu gelangen. Der Film läuft auf der Viennale und startet am 30. Oktober im Kino. Ein Gespräch mit der New Yorkerin über institutionelle Einschränkungen und Sexismus im Alltag.

Focus Features

STANDARD: Ihr Film kommt zu einer Zeit, in der man auf neue Weise über Sexismus in der Gesellschaft diskutiert. Es fällt auf, dass es darin keine Männerfigur ohne Makel gibt – im Gegenteil. Warum?

Hittman: Wenn man eine junge Frau ist, muss man erst lernen, wie man dem anderen Geschlecht begegnet – das ist oft eine feine Linie. Im Film ist früh zu sehen, wie die Freundlichkeit von Talia Ryders Figur im Supermarkt einmal als Flirt missgedeutet wird. Als Frau muss man früh Verteidigungsformen aufbauen, um sich vor Männern zu schützen, die die persönliche Distanz nicht respektieren. Der Film erforscht unsere misogyne Kultur. Allerdings wollte ich weniger eine provokante Kritik von Männern formulieren, sondern das Publikum in diese Erfahrung hineinversetzen.

STANDARD: Der Film beschreibt die kleinen Irritationen der Frauen sehr stimmig. Ging es insgesamt stärker darum, einen Gefühls- oder Geisteszustand zu vermitteln als etwa die Bewältigung von Hindernissen?

Hittman: Schon beides. Es sollte auch um die Probleme gehen, die man überwinden muss. Aber es ist vor allem ein Film über die Bürde, durch diese Abtreibung durchzugehen. Obwohl Autumn ihre Cousine an ihrer Seite hat, macht sie eine einsame, private Erfahrung. Diese Isolation sollte man spüren. Es ist nicht nur ein Film über den Ablauf der Sache selbst, sondern eine Reise. Mit dieser Balance aus Solidarität und Beharrlichkeit.

STANDARD: Sie machen deutlich, wie stigmatisiert Abtreibung ist, zumal bei einer Minderjährigen. Es fällt auf, dass es keine elterlichen Autoritäten gibt – nur institutionelle Hilfe, die aber auch zweischneidig ist.

Hittman: Ich musste all die Verbote berücksichtigen, die von Staat zu Staat existieren. Aus der Perspektive einer Minderjährigen, die fast 18 ist, ist es ungemein frustrierend, keine Entscheidung über den eigenen Körper treffen zu können. In Pennsylvania kann man einen Elternteil fragen, ob er zustimmt, das ist oft keine Option. Oder man geht zu einem Richter und fragt um Erlaubnis. Er muss herausfinden, ob die Frau "reif" genug ist, um diese Entscheidung zu treffen. Für mich ist das grausam, weil man nicht mitberücksichtigt, ob die Person reif genug ist, eine Mutter zu sein.

Eliza Hittman (41) arbeitete an Off-Theater-Bühnen und studierte am California Arts Institute in Los Angeles Film. "Never Rarely Sometimes Always" ist ihr dritter Spielfilm.

STANDARD: Visuell verfährt der Film mit den Abgründen der Geschichte sehr subtil, wenig wird ausgesprochen. Wie ist das entstanden?

Hittmann: Ich versuche, Erklärungen zu vermeiden. Ich mag es nicht, wenn eine Figur noch einmal über das Geschehene spricht. Das hätte den Film umgebracht. Manchmal versuche ich, solche Szenen sogar zu schreiben, aber ich weiß dann auch, dass sie miserabel sind. Man sagt gerne, der Film sei realistisch, aber was heißt das schon, "Realismus" im Kino? Die Dialoge sind beispielsweise auf eine Weise geschrieben, die ganz und gar nicht realistisch ist.

STANDARD: Sie sind knapp, pointiert verdichtet.

Hittman: Ja, stilisiert und darin eben für meine Art zu schreiben spezifisch. Das Vor und Zurück, der Minimalismus. Und es geht immer darum, was noch darunter lauert. Es geht nie um so etwas wie eine verbale Katharsis, die sich über Sprache ausdrückt. Die Mädchen finden ihre Nähe zueinander nicht über Wörter.

STANDARD: Sie haben den Film schon während Obamas Amtszeit geschrieben, aber jetzt erst realisiert. Auch weil die Polarisierung noch größer wurde?

Hittman: Das Projekt bekam neue Dringlichkeit, keine Frage. Für mich verleiht der Film jemandem ein Gesicht, der sonst nur einer Statistik angehört. Ich hoffe, dass er Menschen erkennen lässt, dass diese Barrieren reale Auswirkungen auf Menschen haben, und zwar keine geringen.

STANDARD: Als New Yorkerin ist Ihr Blick auf die Stadt frei von Romantik. Das Versprechen von Freiheit löst sich auch da nur bedingt ein.

Hittman: Wenn man als Außenseiter nach New York kommt, ist das eine schwierige Stadt. Es gibt diese Illusion, es sei eine Stadt für jeden, dass man sich sofort in sie verliebt, aber das stimmt nicht. Menschen aus Kleinstädten empfinden nicht so. Ich wollte die kleinen Hindernisse einfangen, die einem überall begegnen. Hélène (Louvart, die Kamerafrau, Anm.) und ich zeigen die Stadt nicht vertikal. Die Mädchen schauen nie nach oben. Es gibt nur eine Szene, in der Autumn die Stadt "erfährt" – das ist jener Moment, in dem sie ganz allein ist. Auf dem Times Square, als ihre Cousine verschwunden ist und sie zurückbleibt. Das habe ich dafür aufgehoben. (Dominik Kamalzadeh, 23.10.2020)