Gefeiert wurde das Ergebnis der Referendums schon bevor die Stimmen vollständig ausgezählt waren.

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Auch am Tag des Referendums gab es Proteste gegen die Regierung.

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78 Prozent stimmten für eine neue Verfassung.

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Puebla – 32 Jahre nach Ende der Diktatur schlägt Chile ein neues Kapitel auf: Mit überwiegender Mehrheit beschlossen die Chilenen am Sonntag, die noch unter Diktator Augusto Pinochet hinter verschlossenen Türen ausgearbeitete Verfassung hinter sich zu lassen. 78 Prozent votierten ersten Ergebnissen zufolge für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die ein neues Grundgesetz ausarbeiten soll. 79 Prozent waren dafür, dass diese nicht aus amtierenden Parlamentariern besteht, sondern ganz neu gewählt und paritätisch besetzt wird.

Die Wahlen sind im April 2021 geplant, danach hat die Versammlung ein Jahr Zeit, um ihre Arbeit zu vollenden. Das Plebiszit war wegen des Coronavirus um ein halbes Jahr verschoben worden. Den ganzen Tag über waren die Chilenen an die Urnen geströmt; die Wahlbeteiligung dürfte eine der höchsten gewesen sein, seit 2012 die Wahlpflicht abgeschafft wurde.

"Chile ist aufgewacht"

Das Referendum ist ein Sieg für die Kritiker des rechten Präsidenten Sebastián Piñera und für die Protestbewegung, die vor einem Jahr begonnen hatte. Die Demonstrationen hatten sich an einer Fahrpreiserhöhung im Nahverkehr entzündet, eskalierten aber bald in immer größeren Aufläufen, in Streiks, Plünderungen und Sabotage. Bei der Niederschlagung der Proteste durch Militär und Polizei kam es laut Uno zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. 30 Menschen wurden getötet, über 400 verletzt, viele gefoltert. Die Regierung lenkte schließich ein und bewilligte das Plebiszit.

Mit Fahnen, Hupkonzerten und Slogans wie "Chile ist aufgewacht" und "Pinochet, wir begraben dein Erbe", feierten am Abend Zehntausende im ganzen Land dessen Ausgang. In der Hauptstadt Santiago fanden sich überwiegend junge Chilenen auf der Plaza Italia, alias "Platz der Würde" ein, due das Epizentrum der Protestbewegung ist.

Reich aber ungerecht

Die alte Verfassung hatte zahlreiche Klauseln, mit denen sich die rechte Elite auch nach dem Übergang zur Demokratie Einfluss und den Status Quo sicherten. So hatte das Militär Mitspracherechte, das binominale Wahlsystem, in dem in jedem Wahlkreis zwei Personen gewählt wurden, überrepräsentierte die großen Parteien und sicherte den beiden rechten Parteien Sperrminoritäten zu. Vieles davon wurde im Laufe der Jahre reformiert und demokratisiert. Doch vor allem das neoliberale wirtschaftliche Erbe, das alles zur Ware machte und den gesellschaftlichen Solidarpakt untergrub, wog mit der Zeit immer schwerer – zumal auch das Mitte-Links-Bündnis "Concertación" kaum daran rüttelte. Heute fühlt sich Umfragen zufolge die Mehrheit der Chilenen weder von der Concertación noch von den rechten Parteien repräsentiert.

Das Modell sorgte zwar für relativen wirtschaftlichen Wohlstand – mit 23.454 US-Dollar jährlichem Pro-Kopf-Einkommen ist Chile laut nach Panama das zweitreichste Land Lateinamerikas. Jedoch hakt es laut OECD bei der Steuergerechtigkeit und Umverteilung, der Wohlstand ist sehr unfair verteilt. Die Armut sank, aber die Mittelschicht lebte verschuldet und prekär. Zehn Prozent der Chilenen besitzen rund 66 Prozent des Reichtums; über die Hälfte der Bevölkerung verdient kaum mehr als den Mindestlohn von umgerechnet knapp 400 Euro. In den vergangenen Jahren machten verschiedene Gruppen ihrem Ärger immer wieder Luft. Sie demonstrierten gegen Minirenten und die Privatisierung von Bildung und Gesundheit, gegen Raubbau an der Natur, Freunderlwirtschaft und Korruption.

Elite fürchtet um Privilegien

Die Politologin Claudia Heiss von der staatlichen Universität von Chile begrüßte den Ausgang des Referendums. Die Mehrheit der Chilenen stehe nicht hinter der alten Verfassung, Korrekturen etwa bei der Repräsentation von Frauen und Indigenen seien dringend notwendig, um eine neue, legitime Basis zu schaffen. Konservative Verfassungsrechtler wie die Professorin Constanza Hube gaben hingegen zu bedenken, dass nun wieder bei Null begonnen und eine lange Rechtstradition über Bord geworfen wird. Der Soziologe Patricio Nava befürchtete, die neue Verfassung könne zu einer bunten Erklärung guter Absichten werden und damit letztlich ins Leere laufen.

Chiles Elite befürchtet, ihre Privilegien zu verlieren. Das indigene Volk der Mapuche dagegen erwartet mehr Gerechtigkeit für die 13 Prozent Indigenen. Feministinnen und Vertreter der LGBT-Gemeinschaft wollen das konservative Weltbild aufbrechen und mehr Gleichberechtigung verankern. "Wir bauen nun ein neues Haus, und zwar alle gemeinsam", resümiert der Politologe José Cabezas von der Universität Mayor de Santiago. "Auch wenn es eine Kluft gibt zwischen dem, was eine Verfassung vermag und den Erwartungen der Menschen, so ist dies doch ein Neuanfang, an dem wir alle teilhaben." Für den Verfassungsrechtler Javier Couso von der Universität Diego Portales vollendet eine neue Verfassung den langen Weg der Demokratisierung Chiles. (Sandra Weiss, 26.10.2020)