Andrè Schuen ist ein souveräner Onegin.

Oöhn

Opernerven liegen mitunter schon vor dem ersten Ton blank. Bisweilen ist da eine Feindseligkeit in der Luft, die sich inmitten einer Aufführung entlädt. Nun, bei Eugen Onegin, ein diesbezüglicher Rekord: Das Buh kam vor der Vorstellung, galt jedoch nicht Dmitri Tcherniakovs Regie. Es war ein Protest gegen die Aufforderung, auch während der Vorstellung Masken zu tragen. Verständlich, aber undankbar klang das. In Italien werden wieder Kulturtempel geschlossen, der Scala-Chor ist isoliert.

An der Wiener Staatsoper hingegen durfte das Projekt "Regieauffrischung" und "Repertoirelücken schließen" in die dritte Runde gehen. Wie bei Entführung und Madama Butterfly ist die "Urpremiere" eine Weile her; Tcherniakovs Version von Tschaikowskis lyrischen Szenen wurde 2006 am Moskauer Bolschoi-Theater erarbeitet.

Die Inszenierung wirkt allerdings, als würde sie ästhetisch direkt auf die aktuellen Quarantänevorschriften reagieren: Alles Liebesleid, alle Herzensqual, all das Feiern und Flehen spielt sich in nur einem Raum ab, der von Tschaikowskis Epoche inspiriert ist. Aus ihm gibt es in diesem Schachspiel der Herzen kein Entrinnen. Es herrscht Isolation, offene Fenster und ein paar Lichtstrahlen ändern da nichts.

Onegins Charatermix

Das Besondere: Tcherniakov kümmert sich subtil um jeden und jedes, entwirft ein intimes Drama folgenreicher Demütigungen. Eugen Onegin ist ein Mix aus Don Giovanni und Empathie-losem Dorian Gray. Selbstbewusst, leicht zynisch und eher gelangweilt betritt er das Landhaus von Gutsbesitzerwitwe Larina und verursacht mit kühler Noblesse Chaos.

Zuerst bei Tatjana. Die vom beschaulichen Landleben erschöpfte Träumerin findet in Onegin eine ideale emotionale Projektionsfläche. Der Brief, den sie ihm schreibt, wird zum expressiven, nächtlichen Flehgebet geformt: Tatjana offenbart sich kniend jenem Stuhl, auf dem Onegin zuvor saß. Später ebendort wieder sitzend, erteilt ihr der angebetete Dandy eine Abfuhr, ist ganz illusionsloser gönnerhafter Lebemann. Es sind dies Szenen einer nie eingegangenen Ehe, die Tatjana reglos über sich ergehen lässt. Apathisch nimmt sie später die Geschenke zum Namenstag an. Ihr Fest ist quasi eines ohne sie, wodurch der Konflikt zwischen zwei Freunden ins Zentrum rückt.

Kein Duell

Der schwärmerisch dichtende Lenski, der den Flirt seiner Olga mit Onegin nicht erträgt, wird dabei in die Sackgasse der Eifersucht getrieben. Er fordert Satisfaktion, doch Tcherniakov inszeniert kein Duell. Lenski wirft Onegin sein Gewehr als Aufforderung hin, ihn zu exekutieren. Onegin weigert sich. Handgemenge, ein Schuss löst sich, und Lenski bleibt auf dem Tisch liegen.

Dieser letale Ehrenkrieg entbehrt allerdings jeglicher Plattheit. Und während die Hauptfiguren im emotionalen Clinch liegen, erzählen auch die Randfiguren immer ihre kleinen Geschichten. Tcherniakov inszeniert auch die Fußnoten. Selbst im finalen weinrot schimmernden Prunkraum, im Hause des Fürsten Gremin also, wo Onegin unerwartet auf Tatjana trifft. Nunmehr ist sie die Frau des Fürsten.

Flehen um Zuneigung

Es ist von surrealem Charme, wie detailiert Onegins Fremdheit mithilfe der kleinen Figuren dargestellt wird: Ruhelos umkreist er die Festtafel, wird wie ein Gespenst behandelt, das stört. Sein letztes Aufbäumen gerät zwar etwas plakativ: Es fleht Onegin um Zuneigung, legt die Pistole an seine Schläfe. Tatjana jedoch verschwindet mit dem Fürsten Richtung noble Existenz. Onegin ist emotional Schachmatt.

Die Liebesgeschichte, die nur im Kopf stattfand, ist allerdings im Ganzen eine Bereicherung für das Repertoire des Hauses. In jedem Fall auch mit diesem Ensemble: Andrè Schuen ist ein souveräner Onegin, fulminant Bogdan Volkov als Lenski: Der Tenor, dessen Kraft immer dosiert den passenden Ausdruck findet (auch den Gebrochen-Zierlichen), verfügt über ein exquisites Timbre. Anna Goryachova wiederum ist eine lebenslustige, vokal durchdringende Olga, Nicole Car (Tatjana) jedoch der wahre Mittelpunkt der Inszenierung. Sie klingt in jeder Ausdruckslage ausbalanciert und präsent.

Stürmischer Ton

Auch Helene Schneiderman (als Larina), Larissa Diadkova (als Filipjewna) und Dimitry Ivashchenko (als Fürst Gremin) leiden nicht an der robusten orchestralen Assistenz durch Dirigent Tomáš Hanus: Er animiert das Staatsopernorchester zum gerne stürmischen Sehnsuchtston, der mitunter forsch daherkommt. Besonders an exponierten Stellen wird es etwas grob, ansonsten solides Begleithandwerk. Der Zorn über die Maskenpflicht verlagerte sich nicht hin zum Regisseur. Freundlicher Applaus. (Ljubisa Tosic,26.10,2020)