In Polen wird gegen das verschärfte Abtreibungsverbot demonstriert.

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Der Beschluss des polnischen Verfassungsgerichtes über die Verschärfung des bereits restriktivsten europäischen Abtreibungsgesetzes kommt einem faktischen Verbot gleich und hat bereits eine Serie von landesweiten Protestdemonstrationen der Polinnen ausgelöst (vgl. DER STANDARD, 23. 10.). Die mit absoluter Parlamentsmehrheit regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hatte mit dem Urteil des seit 2015 regierungshörigen, von der EU und von der Opposition als illegitim betrachteten Gremiums eine öffentliche Diskussion vermeiden und auch vom Covid-Debakel mit über 12.000 Neuinfektionen am Samstag ablenken wollen. Vor vier Jahren musste die Regierung ein ähnliches gesetzliches Vorhaben wegen massiver Frauenproteste fallenlassen. Zu Recht stellte die NZZ fest, der Entscheid sei nicht nur ein Akt der Heuchelei, sondern auch der Feigheit.

Der Weg zum Abtreibungsverbot in einem Land mit auf 100.000 geschätzten jährlichen Abtreibungen (im Ausland oder in der Illegalität) fügt sich in den Rahmen der von Jarosław Kaczyński, dem starken Mann Polens, diktierten Politik der Polarisierung im Zeichen des Marsches in die Vergangenheit. Kaczyński gilt seit seinem Wahlsieg 2015 als der wichtigste Verbündete des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in der Kampagne zum Umbau der EU entlang illiberaler, nationalistischer und religiöser Trennlinien.

Strippenzieher im Hintergrund

Die EU-Kommission hat gegen beide Staaten ein Grundrechtsverfahren eingeleitet, aber sie pochen auf das Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs samt ihrem Vetorecht.

Im Gegensatz zu Orbán ist der 71-jährige Kaczyński kein geldgieriger Zyniker mit fast absoluter Machtfülle, sondern ein im Hintergrund agierender Strippenzieher, ein allein lebender Asket mit nationalem Sendungsbewusstsein. Sein fanatischer Kulturkampf gegen die Rechte der sexuellen Minderheiten, die Unabhängigkeit der Gerichte und die Freiheit der Medien spaltet die Gesellschaft. In der Rangliste der Reporter ohne Grenzen über die Pressefreiheit stürzte Polen seit 2015 von dem 18. auf den 62. Platz ab.

Offener Ausbruch von Flügelkämpfen

Nach dem knappen Wahlsieg des PiS-Kandidaten, des Amtsinhabers Andrzej Duda, bei der Präsidentenwahl im Juli wurde die Innenpolitik überraschend durch den offenen Ausbruch von Flügelkämpfen im Lager der von der PiS dominierten Vereinigten Rechten überschattet. Der Streit zwischen dem Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki (52) und dem mächtigen Justizminister und Obersten Staatsanwalt in einer Personalunion, Zbigniew Ziobro (50), entsprang der Rivalität zwischen den beiden potenziellen Nachfolgern der Nummer eins.

Der pragmatische und kosmopolitische Morawiecki ist ein Günstling Kaczyńskis, aber ohne Hausmacht in der PiS. Der Eintritt Kaczyńskis als der für die Ressorts Justiz, Inneres und Verteidigung verantwortliche Vizepremier in die von 20 auf 14 Minister reduzierte Morawiecki-Regierung sollte das Bild der Eintracht des Kabinetts wiederherstellen. Die Ernennung eines fanatischen Gegners jeglicher Gleichstellung der Homosexuellen und anderer Minderheiten zum Bildungsminister verspricht jedenfalls keine Änderung des Kaczyński-Kurses. (Paul Lendvai, 26.10.2020)