Der Generalstreik wurde nicht flächendeckend befolgt. Studentinnen und Studenten, Pensionistinnen und Pensionisten, Ärztinnen und Ärzte sowie Lehrerinnen und Lehrer gingen aber auch am Montag auf die Straße.

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Seit 14 Jahren arbeitet Alexander Sergejewitsch in der Raffinerie Naftan in der Stadt Nowopolozk im nördlichen Belarus (Weißrussland). Doch seine nächste Nachtschicht wird er nicht antreten. "Ich schließe mich dem Generalstreik an, damit die Forderungen des Ultimatums erfüllt werden", sagt er in die Kamera, formt seine Finger zum Victory-Zeichen und lädt das Video hoch.

Damit ist der Mann mit dem Kurzhaarschnitt einer der ganz wenigen Arbeiter im Land, die sich öffentlich den Forderungen der Opposition angeschlossen haben. Protest¬führerin Swetlana Tichanowskaja hatte Langzeitpräsident Alexander Lukaschenko zuvor ein Ultimatum gesetzt. Sollte sich Lukaschenko bis Sonntag weigern, zurückzutreten, Polizeigewalt zu beenden und die politischen Gefangenen zu befreien, würde es ab gestern, Montag, im ganzen Land zu Streiks kommen.

Dies trat nicht ein. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe wurden zwar einige Störfälle aus den Betrieben bekannt, vereinzelt meldeten sich Streikende über die sozialen Medien zu Wort. Im Laufe des Tages schlossen sich auch Ärzte, Lehrer, Studenten und Pensionisten den Protesten an und marschierten durch das Minsker Stadtzentrum. Aber die kritische Infrastruktur der Wirtschaft, die mit den Streiks getroffen werden sollte, blieb intakt.
Spurlos ging der "Generalstreik" dennoch nicht vorbei: Bei Grodno Azot, einem der größten Staats¬betriebe des Landes, versammelten sich in den Morgenstunden laut ¬lokalen Medienberichten rund 100 Menschen zum Protest, sie wurden bald von der Polizei abgeführt.

Angst um die Existenz

Zumindest in zwei Werkhallen des großen Düngemittelproduzenten im westbelarussischen Grodno soll ein Schichtwechsel verhindert worden sein, doch der Betrieb konnte dennoch weiterlaufen. Eine kritische Masse scheinen die Streiks nicht erreicht zu haben – wohl auch, weil die Arbeiter Jobverlust und Repressionen fürchten, wie intern angedroht. "Wir können es uns nicht erlauben, unser Gehalt zu verlieren", sagt ein Mitarbeiter von Grodno Azot, der anonym bleiben will, zum STANDARD. Hinzu kommt, dass Arbeiterstreiks mit politischen Forderungen in Belarus streng genommen als illegal gelten.

Lukaschenkos System steht und fällt mit den Staatsbetrieben: 70 Prozent der Wirtschaft werden vom Staat kontrolliert. Die Staatsbetriebe galten früher als Lukaschenko-Hochburgen, doch auch hier wuchs Unzufriedenheit wegen stagnierender Löhne und der Wirtschaftskrise.

Nach den Präsidentschaftswahlen am 9. August hatten sich auch sie Protesten gegen Wahlfälschung und Polizeigewalt angeschlossen, konnten aber durch Repressionen niedergeschlagen werden. "Wenn die Fabriken eine Woche lang stillstehen, dann ist das ein schwerer Schlag für das System", sagte der Streikführer Sergej Dylewskij, der auch im Präsidium des oppositionellen Koordinationsrates sitzt, im Vorfeld zum STANDARD. Doch auch gerade Dylewskijs Schicksal dürfte vielen Arbeitern eine Warnung sein: Er wurde nach den ersten Streiks mehrere Wochen inhaftiert, inzwischen musste er selbst nach Polen fliehen. (Simone Brunner, 26.10.2020)