Am 20. August 2020 wurde der Anführer der russischen Opposition Alexej Nawalny in Tomsk, Russland vergiftet. Das verwendete Gift war eine neue Version des chemischen Kampfstoffs „Nowitschok“, der ursprünglich in der UdSSR entwickelt wurde. Nachdem Nawalny auf einem Flug nach Moskau ohnmächtig wurde, landete das Flugzeug in Omsk und der Politiker wurde an Ärzte übergeben, die ihm rechtzeitig eine Dosis Atropin verabreichen konnten. Dieses schnelle Handeln rettete Nawalnys Leben. Der Vorfall schadete dem Ruf des Kremls und zwang ihn nach Lösungen zu suchen.

2018 veröffentlichten Xymena Kurowska und ich einen Forschungsartikel über eine Online-Desinformationsstrategie der Agentur für Internet-Forschung (auch „Sankt Petersburger Troll-Fabrik“). Wir nannten diese Strategie „Neutrollisation“ und zeigten, wie russische Pro-Kreml-Internet-Trolle damit nach der Ermordung von Boris Nemzow, einem weiteren russischen Oppositionsführer, den Kreml schönfärbten. Neutrollisation schirmte das Regime ab, nicht durch die Verbreitung einer bestimmten Version des Vorfalls, sondern indem sie unterschiedliche (bizarre) Versionen verbreitete, echte Stimmen der Zivilgesellschaft verdrängte, und eine Debatte bedeutungslos machte. So schützte sich das Regime vor rhetorischer Mobilisierung aus der Gesellschaft, ohne das Internet abschalten zu müssen. Damals beschränkte sich Neutrollisation auf soziale Medien. Heute wird sie von den höchsten russischen Funktionären genutzt, einschließlich Putin selbst.

Die Vergiftung Nawalnys wird häufig mit dem Fall Skripal von 2018, einem weiteren missglückten Nowitschok-Attentat, verglichen. Dieser Vergleich hält empirisch, nicht aber kontextuell. Aus einem politischen Blickwinkel betrachtet, ähnelt die Vergiftung Nawalnys eher der Ermordung Nemzows von 2015, eine Parallele, die aus irgendeinem Grund nur wenige ziehen. Beide Männer waren wichtige Oppositionsfiguren und büßten für ihre politische Tätigkeit und Überzeugung. Die verblüffende Ähnlichkeit der Reaktion, die zuerst von kremlfreundlichen Trollen ausgeführt (im Fall Nemzow) und dann von der politischen Elite Russlands übernommen und verstärkt wurde (im Fall Nawalny), weist darauf hin, dass Neutrollisation zu einer vollwertigen Strategie des Kremls geworden ist, um das Regime vor internen und externen Herausforderungen zu schützen.

Russlands Reaktion auf die Vergiftung Nawalnys

Zunächst, wie nach dem Anschlag auf Nemzow, zogen es die russischen Behörden vor, nicht eine oder mehrere glaubwürdige Versionen des Vorfalls zu wählen und diese durch die Einleitung ordnungsgemäßer Ermittlungen zu verfolgen, sondern sofort (über Vertreter) eine Vielzahl offensichtlich unplausibler Versionen zu verbreiten. Aleksandr Sabaev, leitender Toxikologe des Sibirischen Föderalbezirks, schlug acht mögliche Gründe für den gesundheitlichen Zusammenbruch Nawalnys vor: Ernährung, Alkohol, Stress, Übermüdung, Unterkühlung, Überhitzung, Mangel an Frühstück und eine Kohlenhydratstoffwechselstörung. Auch bestand er darauf, dass in seinem Blut keine Giftspuren gefunden wurden.

Die anfängliche Internettaktik ist mittlerweile tief in der Politik des Kreml implementiert.
Foto: Reuters

Nachdem mehrere europäische Labore bestätigten, dass Nawalny Nowitschok ausgesetzt war, ging Russland zur Verbreitung perfider Versionen über. Der Chemiker Wladimir Ugljow, einer der Erfinder von Nowitschok, deutete an, dass Nawalny von jemandem aus seinen eigenen Reihen vergiftet wurde. Angesichts der Umstände seiner Erkrankung musste er durch Berührung vergiftet worden sein, und dass, beharrte Ugljow, „könne nur eine sehr nahestehende Person tun.“ Seine Anspielung war eindeutig: Nawalny wurde betrogen, und der Kreml hatte nichts damit zu tun.

Der Einsatz chemischer Waffen ist ein Schwerverbrechen, so mussten die russischen Behörden schließlich einige offizielle Erklärungen abgeben (welche strikter Neutrollisations-Logik folgten). Das russische Außenministerium veröffentlichte drei Kommentare zu dem Vorfall, jeder davon suggeriert eine Art von Verschwörung gegen Russland. Wie es Verschwörungstheorien erfordern, legte das Ministerium nahe, dass die ganze Sache offensichtlich „inszeniert war … um den Vorfall zu politisieren … [und] Russland zu beschuldigen…“ Wer so etwas tun würde und warum blieb dem Konzept der Neutrollisation entsprechend unklar. Die hauptsächlich vorgebrachten Narrative drehten sich um (1) Deutschland mit seinem verdächtig gut koordinierten Handeln, (2) Deutschlands euro-atlantische Verbündete und ihre verdächtige Zusammenarbeit mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen und (3) die USA, die angeblich 140 Sorten Gift auf Nowitschok-Basis mitentwickelten. Schlussendlich hat Putin selbst, in einem Gespräch mit Emmanuel Macron, angeblich "mit Dementis blockiert und zweifelhafte Erklärungen angeboten," welche noch weniger plausibel erschienen. Laut Le Mondelegte Putin nahe, dass Nawalny die Vergiftung vorgetäuscht, oder das Gift absichtlich eingenommen haben könnte.

Das gezielte Stiften von Verwirrung

Am 24. September twitterte Nawalny dann: „Ich bin etwas verwirrt ... der Kreml muss eine eigene Abteilung geschaffen haben, um sich verschiedene neue Versionen meiner Vergiftung auszudenken.“ Diese ironische Anmerkung könnte jedoch ein Körnchen Wahrheit enthalten. Neutrollisation ist eine industrialisierte Praxis, die darauf angewiesen ist, die Interpretation von Ereignissen der Empfänger zu beeinflussen. Die plausibelste Version eines negativen Ereignisses wird strategisch mit Halbwahrheiten und Lügen übertönt - nicht um zu überzeugen, sondern um die Zuhörer zu verwirren. Im Gegensatz zu konventioneller Propaganda, die stets darauf abzielt, politische Unterstützung für ein bestimmtes politisches System zu bestärken, fördert Neutrollisation, Zynismus und Rückzug. Daraus schließt ein wenig gut politisch informierter Mensch, dass jegliche Politik ein dreckiges Geschäft ist, mit dem man möglichst wenig zu tun haben möchte.

So funktioniert online angewandte Neutrollisation, wenn man fragwürdige Arbeitskräfte, die Tag und Nacht Inhalte erstellen, anheuern kann. Die Anonymität ermöglicht es einer Person im Namen mehrerer Benutzer zu posten. Diese Nutzerprofile können entweder so gestaltetet sein, dass sie der erwarteten sozialen Stellung ihrer nicht-existierenden Besitzer entsprechen, oder leer bleiben, wenn Quantität wichtiger ist als Qualität. Die Bot-Technologie hilft diesen Prozess ein Stück weit zu automatisieren. Das Ausmaß der Neutrollisation abzuschätzen ist schwierig. Untersuchungen zeigen, dass der Anteil von Bot-generierten Tweets von Twitter-Accounts, die über russische Politik schreiben, bereits 2014-2015 bei über 50 Prozent lag. Berichte aus erster Hand und von dritter Seite bestätigen, dass Neutrollisation ebenso auf internationaler Ebene (zum Beispiel während den US-Wahlen) eingesetzt wurde. Sie ist auch nicht mehr auf soziale Medien oder Russland beschränkt. Zu ihren Varianten gehören die Schaffung von Fake-News-Kanälen oder die Organisation von Ausstellungen, während ihre subversive Methode weltweite Anziehungskraft erlangt. (Anatoly Reshetnikov, 9.11.2020)

Anatoly Reshetnikov ist Assistenzprofessor für Internationale Politik an der Webster Vienna Private University. Zuvor war er Gastlektor an der Central European University und Gastwissenschafter an der Universität Lund und am University College London.

Eine längere Version des Artikels ist auf Englisch auf der Website des Eastblogs erschienen (Übersetzung aus dem Englischen Katharina Neumann).

Weitere Beiträge im Eastblog