Das mit dem 26. Kilometer war eine klassische "Hättiwari"-Sache: So wie man später immer genau weiß, wie man in irgendeiner Situation reagieren oder schlagfertig hätte antworten können. Oder müssen hätte: "Wieso hast nicht noch den 26. Kilometer drangehängt?

Heute war doch der 26. und das hätte perfekt gepasst: Ein Longrun am Nationalfeiertag – und du hörst nach 25k auf? Da fehlt einer!" meinte ein Freund, nachdem er auf "Strava" über meinen Lauf gestolpert war: Ja eh. Stimmt. Als er es sagte, sah ich es auch – aber da war es zu spät. Und beim Lauf selbst hatte ich schlicht und einfach nicht dran gedacht: Nächstes Mal. Vielleicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Zu mutmaßen, dass das Nichtmal-an-einen-26.-Kilometer-Denken daran gelegen haben könnte, dass ich zum Nationalfeiertag keinen Bezug habe, wäre schon eine Überhöhung des "Mindsets" hinter diesem schönen, gemütlichen und längeren Lauf: Österreich ist ein wunderschönes, reiches Land, und ich hatte einfach Glück, hier geboren worden zu sein. Das ist keine Leistung, sondern Zufall. Ein Geschenk. Dafür bin ich dankbar.

Aber stolz? Auf eine Fahne? Auf Mozart, Nöstlinger, Córdoba? Auf Berge, Skifahren und Wiener Walzer? Eh sehr super – aber: "Wo woa mei Leistung?" Außerdem wäre ich dann ja wohl auch für Hitler, Fritzl und zwei Weltkriege mitverantwortlich. Äh: Lieber nicht.

Aber eines unterschreibe ich: Österreich ist wundervoll – wegen und trotz allem. Aber Nationalstolz? Nächste Frage bitte.

Foto: thomas rottenberg

Sonn- und Feiertage sind in meiner Welt "Longrun"-Tage. Wobei die Definition von "Longrun" sehr subjektiv ist. Derzeit ist für mich alles über 15 Kilometer "lang". 25 Kilometer sind also "sehr lang" – und ich weiß, dass es dann auch schon wurscht ist, ob ich 24, 26 oder 30 draus mache: Das ist dann reine Kopfsache: Man rennt mit einer Vorgabe (diesmal war es "2 Stunden 20") los, passt Tempo und Ausrüstung dran an – und merkt, sobald es "rollt", rasch, ob das eh halbwegs passt. Dann läuft nicht das "Ich", sondern das "Es": Solo-Longruns sind für mich ein Mix aus Meditation und Landschaftsfilm.

Die Route? Ein Klassiker: Naschmarkt, Ring, Donaukanal, Hauptallee, Tangentenbrücke, Insel, Steinitzsteg, Donaukanal.

Foto: thomas rottenberg

Dass der Lauf an diesem Tag ein Motto hatte, war fast lustig: In meiner Kindheit stand der Nationalfeiertag im Zeichen der "Fitmärsche".

Ganz (jedenfalls wurde das so kommuniziert) Österreich wanderte – eher: spazierte – da. Wild entschlossen "lemurte" (© meine Mutter) man durch irgendwelche Parks oder Landschaften, fühlte sich agil und aktiv – und trug nach einer Stunde Schlendern durch die WIG in Oberlaa eine Medaille. Im Gasthaus ebenso wie beim Aus-dem-Fenster-Lästern-im-Gemeindebau. Kinder waren angehalten, die Plakette mit in die Volksschule zu bringen. Als Beweis, "sich bewegt" zu haben.

Ich weiß, dass es Leute gibt, die deshalb bis heute am Nationalfeiertag "wandern" gehen. Voll adjustiert, versteht sich.

Ja, eh: besser als gar nix.

Foto: thomas rottenberg

Fitmärsche gibt es schon lange keine mehr. Oder doch? Denn was sind "Mammutmarsch" & Co denn anderes? Ob ich laufe oder wandere, ist nur ein Detail. Medaillen? Das Gefühl, mit Gleichgesinnten eine Aufgabe gelöst zu haben? Das fröhlich-verschwörerische Nicken, wenn einem jemand begegnet, der ganz offensichtlich am gleichen Event teilnimmt – oder teilgenommen hat?

Steht es mir also zu, mich über die Fitwanderer meiner Kindheit zu mokieren – wenn ich alle paar Wochen selbst so was mache? Und sowohl die offensichtliche (Bewegung!) als auch die derzeitige Botschaft und Idee dahinter (im graduellen Schlittern in den nächsten Lockdown nicht komplett zu vereinsamen) zu 100 Prozent befürworte?

Natürlich nicht.

Foto: thomas rottenberg

Schon gar nicht an diesem 26. Oktober: Da hatte Michael Wernbacher, der Kopf des We-Move-Runningstore zu "Let’s Move Austria" eingeladen. Einem virtuellen Lauf. Dafür gab es ein Shirt (wer sich im Gegensatz zu mir rechtzeitig anmeldete, bekam es vorab), eine Medaille und ein paar Goodies. Auch wenn das bei niemandem, der oder die da mitmachte, der einzige Grund war, sich zu bewegen.

Wernbacher ist in etwa so alt wie ich – und auch wenn es zurzeit 1.000 virtuelle Läufe und Rennen gibt, war die Fitmarsch-Querverbindung offensichtlich.

Aber wichtiger: Obwohl das Traum-Herbstwetter Tausende ins Freie holte, war es fein, unterwegs immer wieder auf Wildfremde zu treffen, die beim gleichen Event dabei waren.

Foto: thomas rottenberg

Wobei so ein Lauf durch die bewegte Stadt auch auf 1.000 andere Formen des Sich-Bewegens verweist. Laufen und Radfahren sind ja nur zwei der zahllosen Möglichkeiten, den öffentlichen Raum im Wortsinn zu "bespielen": Tennis unter der Tangentenbrücke ist aber mittlerweile auch schon beinahe ein "Standard" …

Foto: thomas rottenberg

… und der Pumptrack beim Radmotorikpark unterhalb der Reichsbrücke ist auf dem allerbesten Weg dazu, einer zu werden: Die Wellenstrecke und der Hindernispark sind erst vor wenigen Wochen eröffnet werden – und werden überrannt.

Eh super – aber gleichzeitig auch ein Zeichen dafür, dass Wien da bisher etwas verschlafen hat. Nicht nur weil Pumptracks anderswo längst zum öffentlichen Bewegungsinventar gehören, sondern auch weil kindliche und jugendliche Radkompetenz ein essenzieller Teil der Verkehrserziehung sind, wenn die Polit-Ansagen vom Rad als gleichwertigem Verkehrsmittel mehr als Wahlkampfblabla bleiben sollen.

Foto: thomas rottenberg

Aber ich schweife ab. Zurück zu dieser Laufrunde. Als ich an diesem hier (ich sag jetzt mal: zum Trocknen) aufgehängten, vergessenen Bikini vorbeikam, poppte ein ganz anderer Gedanke auf. Der, dass es doch fein wäre, noch ein paar Mal im Freiwasser zu plantschen. Dass das geht, weiß ich. Ich sehe es in diversen Schwimmgruppen auf SoMe und kenne Leute, die jetzt noch – auch ohne Neo – in diversen Seen nicht nur kurz untertauchen, sondern schwimmen.

Reizen würde es mich. Aber dafür, es wirklich zu probieren, bin ich zu sehr im Warmduscher- und Zentralheizungsmodus.

Foto: thomas rottenberg

Was einem längere Läufe an den Rändern der bewohnten Zonen aber zeigen: Verweichtlichtsein ist ein Privileg. Denn Unterwegssein ist nicht immer nur freiwillig. Diesen Radwohnwagen habe ich in den letzten Wochen und Monaten schon öfter gesehen. Im Sommer fällt er nicht auf. Im Herbst dann irgendwann schon. Und heute redete ich seine Besitzer an. Das tue ich in solchen Momenten öfter. Im Winter oder bei richtig miesem Wetter frage ich meist, ob alle gesund sind und ob die Leute vom Kältetelefon (01 480 45 53) der Caritas schon mal da waren. Wenn man höflich ist – etwa statt mit "Du" per "Sie" beginnt –, sind die Reaktionen fast immer positiv.

Und die Kamera bleibt ausgeschaltet: Wenn Bilder tatsächlich Privates – egal wie armselig es scheinen mag – zeigen könnten, frage ich. Vorher.

Foto: thomas rottenberg

Und auch wenn der Bewohner des Wohnwagen mir seine Geschichte bereitwillig und freundlich erzählte (Kurzfassung: "Was wir hier tun? Überleben. Ich seit elf Jahren. Mit S., meiner Freundin, seit zwei Monaten. Ja, manchmal ist es hart – aber auch schöner. Wieso? Wegen der Freiheit und der Liebe.") und sich sogar ein bisserl stolz für ein Close-up-Porträt vor seinen Wohnwagen stellte, möchte ich in diesem Fall die Gesichter nicht kenntlich zeigen: Im Alltag, im Supermarkt oder in der U-Bahn würde G. und S. niemand das Obdachlossein ansehen – und das soll so bleiben.

Foto: thomas rottenberg

Nicht nur an Tagen, an denen es auch uns Zentralheizungskinder noch ins Freie lockt. Ob es an Corona und der Möglichkeit, im Freien ein bisserl geselliger als drinnen zu sein, lag oder einfach am Wetter, kann ich nicht sagen – auf alle Fälle waren die Grillplätze auf der Insel alle belegt.

Und auch die meisten sonnigen Picknicktische: "Mitnehmen, was noch geht, solange es noch geht – und sich einreden, dass man Sonne, Licht und Leben in Tupperdosen mit nach Hause nehmen kann. So wie die Bürger von Schilda das Sonnenlicht", sagte eine Bekannte, die ich mit ihrem Freund und ihrem Zweijährigen bei einer der Tisch-Bank-Kombinationen traf: "Ehrlich? Ich habe Angst davor, im Winter durchzudrehen. Dass es vielen so geht? Das macht es nicht besser."

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Wie es mir selbst damit geht? Nicht gut. Gar nicht gut. Mir fehlen die Menschen. Die Nähe. Die Ungezwungenheit. Die Berührungen – sogar idiotisch-formales Händeschütteln. Vergangene Woche, bei den Trail-Filmen im Haydn-Kino fiel es mir richtig auf: Wie oft und selbstverständlich man Menschen noch vor einem halben Jahr berührt hat. Ganz beiläufig.

Wie man mit unterschiedlichen Distanzen zu anderen kommunizierte, welche Geschichte ein halber Meter, ein Meter oder eineinhalb Meter Abstand erzählt. Und wie sehr wir versuchen, uns selbst nicht einzugestehen, wie weh das tut. Dass wir trauern – ohne es auszusprechen.

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Aber laufen hilft. Mir zumindest.

Weil Bewegung ein Stimmungsaufheller, ein Angstlöser ist. Weil gerade die Langdistanzen Alleinsein als Qualität erlebbar machen. Weil Laufen, der Film unterwegs, Neugierde und Offenheit für Bilder, Gefühle, Erlebnisse an und hinter der nächsten Kurve lehrt. Und man, ich, dankbar für das wird, was geht.

Laufen bedeutet auch, zu lernen, dass Momente, in denen gar nix geht, an denen man alles hinschmeißen und nur noch heulen will, dazugehören.

Weil es darum geht, immer einmal öfter aufzustehen – und weiterzumachen. Wieder und weiter zu laufen.

Und es dabei komplett wurscht ist, ob man einen, fünf, 25 oder 26 Kilometer rennt – solange man nicht aufgibt.

Weil das Leben schön ist.

Immer, nicht nur am Nationalfeiertag.

(Thomas Rottenberg, 28.10.2020)

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