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Das Durchschnittsalter der Corona-Positiven ist um 2,3 Jahre niedriger als jenes der Gesamtbevölkerung, das Sterbealter ist um 2,3 Jahre höher.
Foto: Reuters/BERNADETT SZABO

"Laufen wir um die Wette!", forderte der große Achilles die Schildkröte heraus. Großzügig fügte er hinzu: "Du bekommst auch einen Vorsprung." Für den altgriechischen Philosophen Zenon von Elea beging Achilles damit einen kapitalen Fehler. Denn während Achilles den Vorsprung aufholt, erkämpft sich die Schildkröte bereits einen neuen Vorsprung. Nun muss Achilles diesen aufholen, das Spiel wiederholt sich. So wird der Vorsprung zwar immer kleiner, aber Achilles wird – man staune! – die Schildkröte nie einholen. Meint Zenon.

Natürlich ist das ein Trugschluss. Indem wir echte Wettläufe in der Realität beobachten, wissen wir mit absoluter Sicherheit, dass ein schnellerer Läufer den Vorsprung eines langsamen einholen wird.

Zenons Erben

An dieses alte Paradox erinnert die Art und Weise, wie Epidemiologen seit einem halben Jahr Schreckenszahlen zum Thema Corona errechnen. "138.000 Jahre verloren", titelt etwa ein Team um Professor Mary Basset von der Harvard School of Public Health. Professor Troy Quast und Kollegen von der Universität Südflorida toppen das mit 1,2 Millionen verlorenen Lebensjahren.

Letztere Forscher bedienen sich dafür einer Fiktion: Ein mit 75 Jahren verstorbener Mann hätte zum Beispiel noch 11,14 Jahre Lebenserwartung, und dies seien seine "verlorenen Lebensjahre". Wenn man diese Fiktion aber wie Zenon zu Ende denkt, hätte der Verstorbene in elf Jahren am 86. Geburtstag bereits weitere 5,48 Jahre und so weiter. Achilles kann die Schildkröte nie einholen, unser alter Mann kann nie sterben.

Detail am Rande: Später ruderte man zurück und reduzierte wegen der bei Corona sehr häufigen Komorbiditäten die Zahlen, zum Beispiel verkürzt sich die Lebenserwartung mit Diabetes je nach Typ um zehn und 20 Jahre. Immerhin kommt man der Realität so näher. Aber wie nahe?

Die Realität

Wir können in Wirklichkeit nicht wissen, wie lange ein Einzelner gelebt hätte, wäre er nicht an dem einen, sondern an etwas anderem gestorben. Denn gesund stirbt niemand, sondern – in Österreich – an Krebs (24,5 Prozent), an Erkrankungen des Kreislaufsystems (38,9 Prozent), der Atmungsorgane (6,6 Prozent), der Verdauungsorgane (3,3 Prozent) oder an Verletzungen und Vergiftungen (5,3 Prozent).

Suchen wir also etwas Messbares, das wir objektiv beobachten können. Dafür bietet sich die Zahl der Lebenden und der – an was auch immer – Verstorbenen je Altersgruppe an. Damit können wir für Menschen mit und ohne Corona das reale Durchschnittsalter zum Todeszeitpunkt berechnen.

Vorab überlegen wir kurz: Wie würde sich Corona abbilden? Zwei Extreme. Erstens: Würden alle Erkrankten daran sterben, dann wäre das Durchschnittsalter aller Verstorbenen logischerweise gleich jenem aller Erkrankten. Und zweitens: Würde niemand daran sterben, so wäre das Durchschnittsalter der damit Verstorbenen genau gleich dem durchschnittlichen Sterbealter aller Einwohner.

Werfen wir also einen Blick auf das reale Österreich. Die Statistik Austria führt die Bevölkerung nach Altersgruppen und die Sterbetafel für 2019. Dank Open Data finden wir die Corona-Positiven und die mit Corona Verstorbenen nach Altersgruppen.

Was sehen wir, wenn wir umrechnen? Das Durchschnittsalter der Corona-Positiven ist mit 40,7 Jahren um 2,3 Jahre niedriger als jenes der Gesamtbevölkerung in 2019 (43,0 Jahre). Das ist plausibel, denn jüngere Menschen sind tendenziell mobiler und pflegen mehr soziale Kontakte als ältere. Auch wird bei Berufstätigen wohl mehr getestet als bei Pensionisten.

Dann aber, ein Paradox: Das Durchschnittsalter der heuer schlussendlich verstorbenen Corona-Positiven liegt mit 80,8 Jahren um 2,3 Jahre höher als jenes aller 2019 verstorbenen Einwohner (78,5 Jahre). Die Realität widerspricht also der ersten Logik: Ein tödliches Virus müsste eigentlich einen früheren Tod bewirken. Seltsam, oder? So traurig sich Corona individuell auswirken kann, aus kollektiver Sicht – und damit für kollektive Entscheidungen – sind "verlorene Lebensjahre" ein Trugschluss. Versuchen wir aber eine zweite Prüfung an der Realität.

Sterbezahlen

Inzwischen messen fast alle Länder mit enormem finanziellem Aufwand und Millionen Testungen Corona-Infektionen und Sterbefälle. Überlegen wir wieder kurz, wie sich Corona abbilden würde: Würden die Menschen an Covid-19 sterben, so müsste die Zahl der Verstorbenen in einer gewissen Relation zur Zahl der Infizierten stehen. Wenn man hingegen nur damit stirbt, dann wäre keine solche Verhältniszahl erkennbar. Statistiker verwenden dafür eine Regressionsanalyse, ein Ergebnis von R2 nahe +1,0 zeigt einen positiven Zusammenhang auf, eine Zahl von +/- 0.0 bedeutet, dass kein Zusammenhang vorliegt.

Analysieren wir also die weltweiten Zahlen von Worldometer, wo akribisch die täglichen Infektionen und Todesfälle erfasst werden. Um Verzerrungen durch die erratischen Anfangstage auszuschließen, beginnen wir unsere Analyse am 1. April, das gibt bis 22. Oktober etwa sieben Monate an realen Daten. Weiters verwenden wir den Sieben-Tages-Durchschnitt, um Verzerrungen durch Wochenenden zu korrigieren.

Klick! Und das Ergebnis ist – ein zweites Paradox, denn R2 ist 0.00. Exakt Null, was nach statistischen Regeln als "kein Zusammenhang" zu lesen ist. Sicherheitshalber prüfen wir 15 Tage früher, ab 16. März, dem Tag des Lockdowns. Das ergibt ein R2 von +0.10. Nochmal, jetzt mit ungeglätteten Zahlen: +0.02. Dann mit zwei Wochen Verzögerung, um die Zeit zwischen Testung und Ableben abzubilden: +0,03. Bei vier Wochen: +0.02. Also wie wir es drehen und wenden: nichts.

Final Destination

Versucht man, diese Berechnungen aus den realen Daten intuitiv zu verstehen, kommt eine Art "Final Destination" Ahnung auf. Sie kennen den Film vielleicht: Eine Gruppe junger Menschen entgeht aufgrund einer mysteriösen Vorhersehung einem Flugzeugabsturz, nur um bald danach doch vom Tod ereilt zu werden, einer nach dem anderen, selbstverständlich auf genretypisch blutrünstige Weise.

Für unser Thema heißen diese Zahlen schlicht, dass mit immer höherem Alter und damit abnehmender Immunabwehr irgendwann für jeden, der von Diabetes, Krebs und Herzinfarkt bis dahin verschont blieb, die Zeit kommt, wo ihn schlussendlich eben eine infektiöse Krankheit erwischt. Traurig, aber wahr: death and taxes. (Hubertus Hofkirchner, 28.10.2020)