Man könnte sich in einem schicken Pariser Café wähnen, mit einer livrierten Kellnerin, die freundlich fragt: "Tee oder Kaffee?" Bloß findet hier am schummrigen, feuchtkalten Île-de-Sein-Platz kein Kaffeekränzchen statt. In einer langen Schlange warten dunkle Silhouetten – gebeugte, aber auch viele junge Menschen, deren Gesichter unter Kapuzen und Mundschutz kaum auszumachen sind.

In der Mitte des Platzes verteilt das Hilfswerk Restos du Cœur ("Restaurants des Herzens") das Menu des Tages: Suppe, Teigwaren und Fisch, eine Banane. "Tee oder Kaffee?", fragt eine Helferin, während sie Papiertüten zum Mitnehmen präpariert. Sitzplätze gibt es nicht. Wegen Corona? "Nein, wegen der Anwohner", meint Einsatzleiter Sébastien kurz angebunden. Wer wie hier im 14. Bezirk 10.000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche bezahlt hat, wünscht keine grölenden Clochards vor dem Fenster.

Die Mitarbeiter bei Restos du Cœur sind gut beschäftigt.
Foto: Christophe ARCHAMBAULT / AFP

Doch auf dem Platz gibt es keinen Lärm, und um 21 Uhr ist ohnehin Schluss mit der Essensausgabe: Dann beginnt im ganzen Großraum Paris die nächtliche Ausgangssperre.

"Wir verpflegen Leute, die vor der Corona-Krise nie gedacht hätten, dass sie ihr Essen einmal nicht mehr bezahlen können", sagt Sébastien.

Elena zum Beispiel. Die Reinemachefrau aus der Ukraine will nicht klagen; sie rechnet nüchtern vor, dass die Miete ihres Zimmers im Vorort Nanterre 630 Euro im Monat betrage, ihr Verdienst aber maximal 800 Euro. "Viele meiner Kunden haben seit der Corona-Krise kein Geld mehr für eine Putzfrau", sagt sie.

Doch liegt Nanterre nicht fast eine Bahnstunde von der Essensausgabe entfernt? "Wenn du Hunger hast, ist der Rest egal", weiß die resolute kleine Frau, die aus dem Kriegsgebiet im Donbass stammt, aber keinen Flüchtlingsstatus will. Das gäbe nur Probleme für ihre daheimgebliebene Tochter, meint sie.

Hartes Pflaster

Vor ihr wartet ein Rentner, offensichtlich froh, wenn es in der Schlage vorwärtsgeht – er zieht ein Bein nach. An sich sehr gesprächig, meidet er Fragen nach seinem Leben, will auch seinen Namen nicht nennen. Nur aus Nebensätzen geht hervor, dass er seit langem keinen Arzt mehr gesehen und einen Kleinkredit am Hals hat. Und Paris, wo er seit Jahrzehnten wohnt? "Es ist nicht mehr dasselbe."

Und das ist nicht nur eine Floskel. Paris, die romantische Lichterstadt, ist ein hartes Pflaster geworden. Am Nordrand warten Migranten in Zeltlagern auf bessere Zeiten. "Hier im Süden der Hauptstadt wohnen Kleingewerbler, Handwerker, Alleinunternehmer – alles Leute, die von dem Wirtschaftseinbruch hart getroffen werden", erklärt Sébastien. Der lokale Restos-Vorsteher verweist diskret auf eine sehr bürgerlich gekleidete Frau in ihren Dreißigern, die den Platz diskret mit einer vollen Papiertasche verlässt. Sie gehöre zur "neuen Welle", komme seit September regelmäßig ihr Essen holen.

Verpflegt werden derzeit auch Menschen, die nicht damit gerechnet hatten, dass sie ihr Essen einmal nicht mehr bezahlen können.
Foto: Christophe ARCHAMBAULT / AFP

Der französische Ausdruck "nouvelle vague", sonst eher kunsthistorisch verwendet, klingt hier seltsam, wie auch Sébastien einräumt. "Aber Paris wird wirklich überschwemmt, zuerst vom Coronavirus, jetzt von der Rezession."

Der Vorstand der Restos du Cœur, Patrice Blanc, spricht ebenfalls von einer "Flutwelle, die langsam und stetig steigt". Die Ausgabe bei den Volkssuppen habe in Paris gegenüber dem Vorherbst um 30 Prozent zugenommen. Im Vorstadt-Departement Seine-Saint-Denis betrage die Zunahme gar 40 Prozent, erklärt der 73-jährige Ex-Jugendrichter am Telefon. Das decke sich mit einer Extrapolation des französischen Hilfswerkverbunds, dass eine Million Menschen unter die Armutsgrenze gefallen seien. Damit wäre die Schwelle von zehn Millionen Armen in Frankreich (Gesamteinwohnerzahl 65 Millionen) überschritten.

Sprunghaft gestiegene Arbeitslosigkeit

Seit dem Frühling zählt Frankreich auch 800.000 Arbeitslose mehr. Betroffen sind laut Blanc vor allem Minijobber, Teilzeitangestellte, Schwarzarbeiter, Zulieferer und Studenten. Letztere fehlen an der Place de l’Île-de-Sein nur deshalb, weil die Restos du Cœur in der nahen Studentenresidenz, der Cité Universitaire, eine eigene Essensausgabe eröffnet haben. "Ein solches meist verdecktes Elend habe ich in Paris noch nie erlebt", meint Blanc. "Die Situation ist dramatisch."

Sichtbar wird dies sogar an bisher prosperierenden Orten wie dem Flughafen Orly oder dem Frischmarkt Rungis, der die ganze Pariser Agglomeration versorgt. "Tausende von Hilfs- und Gelegenheitsarbeitern verloren und verlieren dort ihre Beschäftigung und – da sie kaum versichert sind – ihr Auskommen", sagt Blanc. Der Trend habe sich umgekehrt: Nachdem die erste Corona-Welle vor allem ältere und auch besser situierte Angestellte getroffen habe, schlage die Rezession nun voll auf die ärmeren Bevölkerungskategorien durch.

Angewiesen auf private Hilfe

Das belegen allein schon die zunehmenden Essensausgaben der "Restaurants des Herzens", die seit 1985 Lücken im französischen Sozialnetz füllen. Vom Andrang überfordert, ist der Staat heute auf private Hilfswerke angewiesen. Er stellt ihnen fast wöchentlich neue Gelder zur Verfügung – hier 65 Millionen für Obdachlose, dort 55 Millionen für die Volkssuppen. Am Wochenende gab Premierminister Jean Castex gezielte Neumaßnahmen bekannt: 150 Euro für Bezieher des Existenzminimums, Einstiegshilfen in die Arbeitswelt für Randständige, neue Notaufnahmeplätze für Mütter. All das habe laut Castex den Zweck, "das Abgleiten ganzer Bevölkerungskategorien in die Armut" zu verhindern. (Stefan Brändle, 28.10.2020)