Kam aus der Themsemündung und ließ – rein optisch – an einen windigen Buchmacher denken: Lee Brilleaux von den Pub-Rockern Dr. Feelgood, 1976 im Hammersmith Odeon.

Foto: Redferns/Echenberg

Als man im Süden Großbritanniens in den frühen 1970er-Jahren der ersten Pub- Rocker ansichtig wurde, bemühten die Sensationsschreiber der Musikpresse ihr gesamtes zuvor in den Lokalteilen gesammeltes Wissen. Rhythm ’n’ Blueser wie diejenigen von Dr. Feelgood oder Kilburn and The High Roads, so hieß es, sahen aus, als wären sie einander "im Gefängnis begegnet oder in einer besonders demoralisierenden Einrichtung unserer glorreichen Streitkräfte".

Und tatsächlich: Die Musik dieser betont nachlässig gekleideten "Working Poor" stach radikal ab vom Feenzirkus, der damals in den Konzertsälen des Vereinigten Königreichs sein Unwesen trieb. Keyboarder mit fließendem Blondhaar vertonten Songzyklen über die sechs Ehefrauen von König Heinrich VIII., wieder andere erkundeten in uferlosen Rocksymphonien die Meeresböden oder spielten Mussorgsky nach. Ein Unding für Arbeiter!

Es war, als ob ein Heer von Public-School-Absolventen den genossenen Klavierunterricht in beflissenen Rock ’n’ Roll übersetzen wollte. Dagegen pflegten Pub-Rocker, obwohl professionell bis in die Cowboystiefelspitzen, ihr Feierabendimage. Hatten doch bereits in den 1960ern Londoner Hoch-Oktan-Kneipen wie das Cooks Ferry Inn in Edmonton oder The Red Lion in Leytonstone Bands wie The Animals oder The Who ordentlich Krach schlagen lassen.

Eine hemdsärmelige Ami-Band namens Eggs Over Easy blieb Jahre später, genauer 1971, in einer Tränke namens The Tally Ho kleben. Das Beispiel der Graswurzelkombo machte Schule. Musiker wie Brinsley Schwarz und dessen Kumpel Nick Lowe bespielten mit ihrer Band eine ganze Handvoll Pubs, indem sie US-Country-Musik "britannisierten". Dem überwiegend proletarischen Publikum traten diese Musikhelden des Alltags mit unverwüstlicher Jukebox-Mentalität entgegen.

Vor allem nördlich der Themse wurde in Spelunken dem Rock die Bodenhaftung zurückerstattet. Nicht nur der Progressive Rock ging handelnden Akteuren wie Ducks Deluxe oder Brewers Droop gehörig auf die Nerven. Wie es im Booklet der mustergültig edierten CD-Kompilation Surrender to the Rhythm (Cherry Red Records) erklärend heißt: Mit dem Wirksamwerden der Ölkrise und dem Aufkommen autofreier Tage wurden Tourneen für kleinere Bands schlicht unrentabel.

Ethos des Wurlitzers

Dafür hielten die Scouts der Plattenindustrie mit Vorliebe in angesagten Kaschemmen nach dem Nachwuchs Ausschau. Sie fanden Musiker vor, die nicht ganz ernst gemeinten Kitchen-Sink-Pop für Schmalztollen spielten (wie die famosen Kursaal Flyers) – oder Wurlitzermusik (wie Bearded Lady oder andere vergessene Protagonisten), die angenehm in kaputte Glieder fuhr. Damals war Großbritannien schließlich ein Hort der Industriearbeit!

Pub-Rock-Platten, die noch Ende der 1970er auf Chiswick Records herauskamen, wurden manches Mal sogar durch Striptänzerinnen beworben. Politische Korrektheit gehörte unbedingt zum Inventar des Klassenfeindes; so wie auch der sogenannte gute Geschmack. Dafür besannen sich viele Rockbands der Music-Hall-Tradition: Auf die Melodielinie kommt es an, auch dann, wenn man, auf dem Spannteppich neben dem Messingaschenbecher kniend, nach der Shillingmünze sucht! Der Rest sind Groove-Monster, laidback gespielt, und Pilzköpfe, die man mit Cowboyhüten tarnt.

Der Bierschweiß floss in Strömen. Stakkato-Riffs wie diejenigen von Dr. Feelgood legten die Rutsche hinüber zum Punkrock – der im Frühwerk von Eddie and the Hot Rods seine gesunde Verwurzelung im Blues nicht verleugnete. Als der spätere The-Clash-Held Joe Strummer im Frühling 1976 mit seinen famos rustikalen The 101’ers in The Nashville Rooms zum Konzert lud, schwante ihm recht bald, was den Pub-Rockern unmittelbar bevorstehen sollte: "Eine junge Band namens Sex Pistols gab für uns die Vorgruppe. Als sie fünf Sekunden gespielt hatten, wusste ich: Wir waren die Zeitung vom vergangenen Tag! Es war mit einem Schlag aus und vorbei."

Rolle des Mentors

Strummer selbst glückte der Übergang bestens, ebenso wie Songwritern vom Schlage Elvis Costellos (vormals bei Flip City) oder Ian Gomms (Ex-Brinsley-Schwarz). Andere wie Nick Lowe wechselten in die Mentorenrolle: Sie blieben Rufonkel und halfen den Drei-Akkord-Punks als Produzenten auf die Sprünge. Die Jukebox Surrender to the Rhythm umfasst drei CDs. Sie weckt die unbändige Lust auf Glockenhosen und extrem laues Bier. (Ronald Pohl, 28.10.2020)