Die Proteste auf Italiens Straßen werden immer heftiger, wie hier in Mailand.

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Im Innenministerium und in den Polizeipräfekturen der größeren Städte Italiens herrscht inzwischen Alarmstufe Rot: Am Montagabend haben sich die gewaltsamen Proteste gegen die neuen Anti-Covid-Maßnahmen der Regierung auf zahlreiche Städte im ganzen Land ausgebreitet. Die Schauplätze der Ausschreitungen: Mailand, Cremona, Turin und Triest im Norden, Rom, Pescara und Viareggio im Zentrum, Neapel, Lecce und Catania im Süden. Halb Italien ist in Aufruhr.

Zu besonders heftigen Krawallen kam es in Mailand und in Turin, wo Randalierer in stundenlangen Straßenschlachten Knall- und Rauchpetarden sowie Molotowcocktails in Richtung der Ordnungskräfte warfen. In Turin ist es auch zu Plünderungen gekommen. Mehrere Beamte wurden verletzt und dutzende Demonstranten festgenommen. Auch am Dienstag kam es in Rom zu gewalttätigen Ausschreitungen.

Neofaschisten und Linksradikale

Das Schema der Ausschreitungen ist, seit es in der Nacht vom vergangenen Freitag auf Samstag in Neapel zu den ersten großen Krawallen kam, immer dasselbe: Neofaschistische Gruppen wie Casa Pound oder Forza Nuova sowie linksradikale Anarchisten benutzen friedliche Demonstrationen von Gewerbetreibenden, um sie zu einer Stadtguerilla umzufunktionieren. Meistens mischen dabei auch noch gewaltbereite Fußball-Ultras mit, im Süden sind außerdem Handlanger der Mafia mit von der Partie.

Die Proteste und Gewaltaktionen richten sich gegen die Regierung in Rom, aber auch gegen die jeweiligen Regionalverwaltungen, die zum Teil noch einschneidendere Maßnahmen verfügt haben als die Zentralregierung.

Unternehmer demonstrieren

Die Krawalle liefern dramatische TV-Bilder, doch das wahre Problem für die Regierung sind die Tausenden von Kleinunternehmern, die in diesen Tagen von Existenzängsten getrieben auf die Straßen gehen. Von den neuen Anti-Covid-Maßnahmen sind rund 400.000 Betriebe betroffen, die mehr als eine Million Menschen beschäftigen: Bars, Trattorien und Restaurants, die seit Montag um 18 Uhr schließen müssen, außerdem Fitnesscenter, Kinos, Theater und Schwimmbäder, die bis mindestens 24. November überhaupt nicht mehr öffnen können.

Viele dieser Betriebe sind finanziell noch angeschlagen vom ersten Lockdown im Frühling und werden die neue Zwangspause womöglich nicht überstehen. "Das wird uns den Gnadenstoß geben", erklärte am Wochenende Giuseppe Tonon, Besitzer und Koch im Ristorante Ca’ Lozzio in Oderzo bei Treviso.

Kritik der Kulturschaffenden

Mobil machen inzwischen auch Kulturschaffende: Ebenso wie Restaurantbesitzer und Betreiber von Fitnesszentren haben auch Besitzer und Geschäftsführer von Theatern, Kinos und Konzertlokalen in den vergangenen Monaten zum Teil beträchtliche Summen investiert, um ihre Betriebe an die strengen Anti-Covid-Protokolle der Regierung anzupassen. Sie sehen nicht ein, warum nun alle Mühe vergebens gewesen sein soll.

Der Stardirigent Riccardo Muti bezeichnete die Schließung der Theater und Musikhallen in einem offenen Brief an Giuseppe Conte als "schwerwiegend" und bat den Premier, seinen Entscheid zu überdenken. Ohne die "geistige Nahrung" der Musik drohe der Körper krank zu werden.

Widerstand aus den eigenen Reihen

Die Opposition rund um Lega-Chef Matteo Salvini schießt aus allen Rohren gegen die Regierung: Es sei "idiotisch", Betriebe zu schließen, in denen keine Infektionsgefahr herrsche. Distanziert von dem neuen Mini-Lockdown hat sich aber auch die Regierungspartei Italia Viva von Matteo Renzi: Der Ex-Premier fordert, dass die meisten Maßnahmen wieder zurückgenommen würden.

Das brachte Nicola Zingaretti vom sozialdemokratischen PD auf die Palme: Der Chef der größten linken Regierungspartei bezeichnete es als "unseriös", dass Renzi das Dekret in der Regierungssitzung erst absegne, um am nächsten Morgen öffentlich in den Chor der Opposition einzustimmen. Fest steht, dass die Uneinigkeit in der Regierung dem Bemühen Contes, den frustrierten Italienern die Notwendigkeit der neuen Restriktionen zu erklären, wenig zuträglich ist.

"Bankrotterklärung für Vergangenheit"

Die Stimmung in Italien ist jedenfalls gereizt. Die wichtigste Zeitung des Landes, der sonst betont regierungsnahe "Corriere della Sera", geht mit den neuen Maßnahmen hart ins Gericht: "Der Mini-Lockdown ist kein Plan für die Zukunft, sondern eine Bankrotterklärung in Bezug auf die Vergangenheit: Er belegt, dass die Regierung unfähig war, sich für die erwartete zweite Welle zu wappnen", schrieb das Mailänder Blatt.

Die Sinnhaftigkeit der neuen Maßnahmen wird zwar nicht angezweifelt, aber der "Corriere della Sera" unterstellt, dass diese schon gar nicht nötig gewesen wären, wenn die Regierung einige elementare Präventionsvorkehrungen getroffen hätte. Die Versäumnisse der Regierung sind derzeit generell das zentrale Thema in Italien.

Hilfen geplant

Um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und die von den neuen Maßnahmen schwer getroffenen Kleinunternehmer und Kulturschaffenden zu unterstützen, wollte die Regierung gestern ein neues Hilfspaket im Umfang von 4,5 Milliarden Euro schnüren. Im Unterschied zu den Corona-Hilfen vom Frühling soll die Unterstützung diesmal nicht nur in Form von Steuerrabatten und staatlichen Kreditgarantien erfolgen, sondern auch durch direkte Überweisungen der errechneten Ertragsausfälle auf das Bankkonto der Berechtigten.

Die Skepsis der Italiener ist freilich groß: Bisher sind die staatlichen Hilfen meist mit monatelanger Verspätung oder gar nicht angekommen – und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es beim neuen Hilfspaket besser werden soll. (Dominik Straub, 27.10.2020)