Am 23. Oktober blockierten etwa 100 Aktivistinnen von "System Change not Climate Change" für elf Stunden den Wiener Sitz der Industriellenvereinigung, um ein Zeichen für die Mobilitätswende zu setzen. In vielen Medien wurde vor allem über den so entstandenen Stau berichtet, während die Gründe für die Blockade und die Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten seltener beleuchtet wurden. Dabei zeigt beispielsweise ein Blick ins STANDARD-Forum unter der Staumeldung, dass die Debatte über die Zukunftsfähigkeit des automobilen Verkehrssystems polarisiert. Ein gängiger Vorwurf: Die Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten seien weltfremd, zu radikal und nicht durchsetzbar. Zudem sei die Automobilindustrie wichtig für die österreichische Wirtschaft und als Arbeitgeber, die Abkehr vom Auto müsse also unweigerlich Menschen in die Arbeitslosigkeit schicken, so wie gerade bei MAN geschehen. Kurzum: Die Aktivistinnen und Aktivisten hätten keine Ahnung vom Thema und hielten mit ihrem Unsinn auch noch die Menschen am Weg zur Arbeit auf. Ganz im Gegenteil.

Die Forderungen von "System Change not Climate Change" beruhen auf der Erkenntnis, dass auch bei weiterer Elektrifizierung die Anzahl der Autos, insbesondere in Städten, zur Bekämpfung der gegenwärtigen ökologischen Krisen reduziert werden muss - und zwar global gesehen um ungefähr die Hälfte. Denn Autos produzieren nicht nur Abgase, die die Klimakrise anheizen, auch Herstellung und Nutzung sind mit massiven ökologischen Kosten verbunden, von Ressourcenverbrauch bis Umweltverschmutzung durch Reifenabrieb. In Ländern wie Österreich, die eine hohe Automobildichte haben, muss die Reduktion folgerichtig noch deutlich höher sein. 

Blockade der Industriellenvereinigung im Oktober.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Klimagerechte Mobilität braucht politisches Handeln

So fordern die Aktivistinnen und Aktivisten nicht nur eine autobefreite Stadt, sondern auch ein Umdenken in der Raumplanung und bei der Bereitstellung öffentlicher Mobilitätsangebote. Sie fordern also drastische Veränderungen der städtischen Infrastruktur und greifen damit wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse auf. Es ist mittlerweile weithin bekannt, dass Autos auf Wiener Straßen überproportional viel Platz einnehmen, nämlich rund zwei Drittel des verfügbaren Raumes, während nur ein Drittel der Wege damit zurückgelegt werden. Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer autozentrierten Stadtplanung, in der Autos gegenüber anderen Verkehrsteilnehmerinnen bevorzugt werden. Einfach erkennbar ist diese Priorisierung etwa an der Ampelschaltung und der hohen Parkplatzdichte. Zum Vergleich: In Wien gibt es fast viermal so viele oberirdische Parkplätze wie in Paris.

Abgesehen davon, dass Autos besonders im städtischen Verkehr für eine Vielzahl negativer Gesundheitsfolgen von Schadstoff- bis Lärmbelastung verantwortlich sind, wird dieser Platz dringend gebraucht, um Wien besser auf die Folgen des Klimawandels vorzubereiten. So in etwa mehr Grün- und Außenflächen, damit die heißer werdenden Sommer nicht noch stärker zur Gesundheitsgefahr werden. Während Städte wie Paris und Barcelona reagieren und gerade eine massive Umnutzung städtischen Raums in die Wege einleiten, wird in Wien selbst eine eher kosmetische Verkehrsreduktion um 25 Prozent im ersten Bezirk von der SP blockiert.

Die Stadt hinkt klimapolitisch trotz bisheriger grüner Regierungsbeteiligung hinterher. "System Change not Climate Change" zeigen auf, dass eine zukunftsfähige Stadt multimodale Mobilität braucht statt Blechlawinen. Da ist es nur konsequent, eine entsprechende Änderung des Einsatzes öffentlicher Gelder zu fordern. Wenn weniger Autos fahren sollen, sind neue Straßen wie etwa der Lobautunnel, kontraproduktiv, weil mehr Straßen auch mehr Verkehr nach sich ziehen.

Sozial-ökologische Nachhaltigkeit braucht mutige Industriepolitik

Auch die Transformation und Konversion der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer scheinen angesichts der Dominanz der Autos und der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des Sektors in weiter Ferne. Jedoch gibt es sowohl aktuelle als auch historische Beispiele für Konversion, also innerbetriebliche Produktionsumstellungen, etwa weil die Belegschaft eines Rüstungsunternehmens in Großbritannien gesellschaftlich sinnvolle Produkte herstellen wollte oder weil in der Coronakrise mehr Beatmungsgeräte gebraucht werden. Letztere wurden in den USA übrigens von Ford und General Motors gebaut.

Im Bezug auf die österreichische Autoindustrie lohnt ein Blick auf die Ergebnisse des Con-Labour-Projekts der Universität Wien und der Universität für Bodenkultur Wien. Die Forscherinnen und Forscher finden unter den Beschäftigten durchaus die Bereitschaft zur Herstellung neuer Produkte, die Frage ist also auch, ob die Betriebseigentümerinnen und -eigentümer das wollen und zulassen. In einem vergesellschafteten Betrieb, analog zu den Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten, wären die beiden Gruppen kongruent. Hingegen zeigt das Beispiel des geplanten Stellenabbaus bei MAN die Konsequenz der momentanen Eigentumsverhältnisse. Für eine höhere Rendite der Aktionärinnen und Aktionäre werden ohne Not Arbeitsplätze geopfert. 

Es ist also an der Zeit, die Transformation der Autoindustrie aus Perspektive der Beschäftigten anzugehen, anstatt Konzernentscheidungen abzuwarten und auf ein möglichst langes Weiter wie bisher zu hoffen. Das ist weder sozial noch ökologisch nachhaltig, sondern eine Garantie für Transformation durch Desaster statt durch Design. Stattdessen sollte es, neben der Konversion, darum gehen, gerechte Übergänge für die in der Autoindustrie Beschäftigten zu schaffen. Gerechte Übergänge sind Kernstück gewerkschaftlicher Arbeit im Prozess tiefgreifender industrieller Veränderungen, sei es im Zuge der Umstrukturierung der Voestalpine in den 80er-Jahren oder während des deutschen Kohleausstiegs. Dabei können verschiedene Mechanismen zur sozialverträglichen Gestaltung des Wandels zum Tragen kommen, etwa Arbeitszeitverkürzungen, Weiterbildungsmaßnahmen, Hilfe bei der Jobfindung, Garantie gleichwertiger Beschäftigung, Frühpensionierung oder regionale Entwicklungsprogramme. 

Diese Maßnahmen können auch für Österreich einen viablen Weg darstellen. Beispielsweise wäre für die etwa 40.000 Beschäftigten der Autoindustrie etwa eine abschlagsfreie Pension mit 58, analog zum deutschen Braunkohlekompromiss, geeignet, eine Reduktion der Arbeitsplätze um 35 Prozent bis 2030 abzufedern. Freilich kann eine Frühpensionierung nicht als Einzelmaßnahme den gerechten Übergang bedeuten, jedoch wird an diesem Beispiel der erhebliche Spielraum, auch recht drastische Schrumpfungsprozesse abzufedern, deutlich. Zudem zeigt der Wechsel der ehemaligen Opel-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in Aspern in den Straßenbahnbau das Potential der zukünftigen Anstellung in jenen Teilen der Mobilitätswirtschaft auf, die für einen Wandel hin zu klimagerechter Mobilität dringend ausgebaut werden müssen. 

Veränderung braucht Aktivismus

"System Change not Climate Change" lenken also das Augenmerk auf entscheidende Fragen der österreichischen Klimapolitik und zeigen zudem mit ihren Forderungen konkrete Schritte in Richtung einer klimagerechten Zukunft auf. Wer, wie im Forum ebenfalls häufig zu lesen ist, meint, dass es an der Wissenschaft sei, Lösungen zu finden, missversteht den Charakter der Herausforderung. Die Wissenschaft dient dem besseren Verständnis gesellschaftlicher und natürlicher Phänomene, entsprechend beziehen sich die Forderungen der Aktivistinnen und Aktivisten wie oben erläutert auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Klimakrise, ihre Ursachen und Auswirkungen, sind gut erforscht, es werden laufend neue Ergebnisse publiziert – etwa zur möglichen Klimaneutralität Österreichs bis 2040. Der Klimawandel wird schon seit den 50er-Jahren untersucht. Spätestens seit den 80er-Jahren sind die potentiell katastrophalen Folgen bekannt, auch wenn Shell die Ergebnisse einer entsprechenden Studie aus dem Jahr 1986 bis 2018 unter Verschluss halten konnte.

Die viel zu langsame politische Reaktion auf den Klimawandel liegt also nicht an mangelnden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie ist eine Folge der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Profiteurinnen und Profiteure des ökonomischen Systems, dass dem menschengemachten Klimawandel zugrunde liegt, haben naturgemäß kein Interesse daran, es zu ändern. Stattdessen ist die angeblich untrennbare Verbindung zwischen kapitalistischem Wirtschaftssystem, individueller politischer Freiheit und materiellem Wohlstand so fest im kollektiven Gedächtnis verankert, dass der britische Soziologe Mark Fisher den Begriff des kapitalistischen Realismus dafür prägte. Es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Dagegen wollen Gruppen wie "System Change not Climate Change" aufzeigen, dass eine andere Welt möglich ist und wie Schritte auf dem Weg dorthin aussehen können. Mit ihren konkreten Forderungen schaffen sie eine konkrete Utopie – eine mögliche, radikale Gesellschaftsveränderung, die im Heute ansetzt statt auf ein besseres Morgen zu warten. Das ist gut so, denn abwarten ist angesichts der drohenden Klimakatastrophe eine denkbar schlechte Idee. (Katharina Keil, 6.11.2020)

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