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Rad fahren auch bei "Wä-Wetter": Es kommt auf das richtige Outfit an.

Foto: Getty Images

Manche Bilder sind austauschbar. Etwa das der beiden jungen Frauen, die sich an einem Herbsttag im Coffeeshop einen Platz suchen, sich aus ihren Schal-Mütze-Mantel-Ensembles schälen und plaudern, während draußen der kalte Wind Regen an die Scheiben klatscht. Irgendwann werden sie aufstehen, sich voneinander verabschieden, in Mütze, Schal und Mantel packen, rausgehen, Schultern und Schal hochziehen – und zur U-Bahn oder zum Auto eilen. Weil’s draußen grauslich ist: Herbst eben.

Außer die beiden treffen einander in Kopenhagen. Oder in Amsterdam. Dort ist das Wetter zwar auch grauslich, aber die beiden werden unter ihre urban-modische Stadtherbstaußenschicht noch eine Fleecejacke ziehen. Oder ein Windstopper-Gilet. Und dann auf ihre Fahrräder steigen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne dass das jemandem auffällt. Weil auch alle anderen Rad fahren. Weil das die normalste Sache der Welt ist. Ja, auch bei "Wä-Wetter".

"Ich besitze kein 'Radoutfit'", schreibt Mikael Colville-Andersen. "Aber ich habe Winterkleidung. Denn ich lebe in einem Land, in dem es den Winter gibt." Mikael Colville-Andersen ist Stadtplaner – und Kopenhagens Rad-Missionar. Er schreibt und erzählt weltweit über das Best-Practice-Model jener "Rad-Stadt", deren Name Synonym für das Radtauglichmachen von Städten ist: "Copenhagenization".

Radfahren im Herbst und Winter

Und dabei zählt nicht nur Infrastruktur, sondern auch vermeintlich Banales. Denn das hält viele vom Radfahren ab. Etwa der Glaube, dass nördlich von Rom und Barcelona Radfahren im Herbst und Winter unmöglich ist. Die Bilder in Colville-Andersens Blog copenhagenize.com beweisen das Gegenteil: Bilder von ganz normalen Menschen in ganz normalen Outfits auf ganz normalen Fahrrädern in regnerisch-unwirtlichen Herbst- oder richtig verschneiten Wintersettings.

"Poncho 3.0" von The People’s Rainwear (rund 72 Euro).
Foto: Hersteller

Wieso das funktioniert? Wo Radfahren Alltag ist, wird es nicht verkopft. Colville-Andersen höhnte 2012 über anderswo stets als "Sensation" verkaufte Schlechtwetter-Tipps: "Ach, mehrere Schichten? Stellt euch vor: In Regionen mit winterlichem Klima tun die Leute das seit jeher, wenn sie zum Bus oder einkaufen gehen. Also schaffen sie das wohl auch, wenn sie das Rad nehmen."

Stimmt. Trotzdem macht Colville-Andersen einen Denkfehler: Er "denkt" Kopenhagen. Dort fährt man. Die kleinen Tricks dahinter fallen niemandem mehr auf. Anderswo sind sie aber doch oft neu: Viele, die im Sommer "dank" Corona in der Stadt das Rad entdeckten, würden auch und gerade jetzt gern fahren. Doch das Narrativ sagt: Radfahren ist etwas für Frühling, Sommer – und Freaks. Oder?

Ausrüstung ist der Schlüssel

Oder. Aber die Ausrüstung ist der Schlüssel. Das spüren seit Herbstbeginn auch die Hersteller einschlägiger Kleidung. "Die Händler bestellen schon nach, obwohl die Herbst-Winter-Ware gerade ausgeliefert wurde", erklärt Dominique Roshardt von Löffler.

Der oberösterreichische Outdoor-Spezialist hat neben wetterfesten Alpin-, Lauf- und Bergoutfits auch Radgewand für "Wä-Wetter". Dem Stoff ist die Tätigkeit egal, doch es gibt Rad-Spezifika, abseits der Standard-Features Atmungsaktivität, Wind- und Wasserundurchlässigkeit.

Reflektierende Elemente etwa – oder Passform und Schnitt: Schon bei der fast aufrechten Hollandrad-Sitzhaltung verändern die vorgestreckten Arme die Proportionen: "Eine Jacke, die vor dem Spiegel perfekt sitzt, wird auf dem Rad wenig Freude machen: Ärmel sind zu kurz, Schultern wandern nach oben, im Kreuz wird es kalt", referiert Roshardt. Man strampelt ungemütlich. Wenn Nässe und Kälte dazukommen, steigt man nie wieder auf – und hält die, die es tun, für Spinner.

"Cypress Hybrid Jacket" von 7mesh (200 Euro).
Foto: Hersteller

Das betont auch John Zopfi. Der Kanadier leitet von Amsterdam aus die Europa-Geschicke des jungen Bike-Outfit-Labels 7mesh. Mastermind der Marke aus dem kanadischen Outdoor-Mekka Squamish ist Tyler Jordan, der ehemalige CEO des Kultlabels Arc'teryx.

Arc'teryx steht für "hochalpine" High-End-Kleidung – aber als begeisterte Radfahrer (in Kanada unter Bedingungen, die sogar in Kopenhagen als extrem gälten) waren Jordan und Zopfi (der zuvor bei Patagonia und Gore arbeitete) mit auf dem Rad oft nicht passenden Produkten unglücklich – und suchten Abhilfe: Nicht die Funktion der Textilien, sondern Leichtigkeit, Elastizität oder etwa Abriebfestigkeit mussten anders eingesetzt werden. Etwa weil Rucksackgurte am Rad anders scheuern, als am Berg.

Und auch die Schnitte, sagt Zopfi: "Die beste Berghose nutzt wenig, wenn durch die Sitzposition am Rad Nässe und Wind Kreuz und Nieren kühlen." Radhosen sitzen deshalb im Kreuz höher, sind aber weniger "massiv" als Ski-Überhosen, deren "Materialstau" am Sattel stört oder deren Beine so weit sind, dass sie über Ski- oder Bergschuhe reichen – und am Rad an der Kette streifen.

Waschelnass

Doch gute Outdoorkleidung kostet. Dennoch ist – auf den ersten Blick gleichwertige – Billigware aus dem Kaffee-Gemischtwarenladen langfristig oft die teurere, weil frustbringende Investition: "Für ‚billig und wasserdicht‘ genügt ein Plastikmüllsack: Der ist zu 100 Prozent dicht – in beide Richtungen", bringt es Kurt Stefan auf den Punkt.

Dass man so zwar von Regen, Wind und Schnee verschont bleibt, Bewegungswärme und Schweiß aber (im Gegensatz zu Funktionsstoffen) im Inneren der Plastikhaut bleiben und man dann erst recht waschelnass ankommt, ist in Outdoorkreisen eine Binsenweisheit.

"Hooded Jacket Evo Primaloft 100" von Löffler (280 Euro).
Foto: Hersteller

Doch der Betreiber der Leopoldstädter Edel-Radboutique Veletage warnt davor, derlei Wissen vorauszusetzen: Woher sollen Menschen mit frisch entfachter Herbst-Winter-Radfahrlust wissen, dass Funktionsmembrane diesen Trick beherrschen? Oder dass man dann drunter am besten ein wärmendes "Mid-Layer" und ein Feuchtigkeit abtransportierendes "Base-Layer" trägt.

Wobei, räumt Stefan ein, Letzteres sei für ein paar Radkilometer zur Arbeit oder ins Kino meist eh nicht nötig. Ganz abgesehen davon, dass städtische "Bike-Commuter" selten aussehen wollen, "als kämen sie vom Berg oder Langlaufen".

Kältebrücken vermeiden

Essenziell, so Stefan, sei aber das Vermeiden von "Anfängerfehlern". Etwa das Vermeiden von Kältebrücken (etwa an Hals, Hüften, Handgelenken oder Knöcheln) und der Schutz besonders kältesensibler Körperteile wie Hände, Ohren und Füße.

Ohne Handschuhe, ohne Stirnband oder Mütze ("Der Helm muss trotzdem passen!") und ohne Schal oder "Schlauchmütze" in der Tasche loszufahren kann sehr rasch sehr unangenehm werden: "Anfänger unterschätzen, wie sehr Fahrtwind kühlt."

Das gilt besonders für die Zehen. Aber das dicke Paar (Merino-)Socken, warnt Nora Turner, als "Unicorncycling" Österreichs bekannteste Instagram-Bike-Influencerin, bringt nichts, "wenn der Schuh nicht eine Größe größer als der Sommer-Rad-Schuh ist, damit genug angewärmte Luft im Schuh bleibt." Wer es auch wetterfest mag, gönnt sich dann noch wind- und wasserabweisende Überzieher – die passen oft auch über Straßenschuhe.

Die bekommen bei widrigem Wetter ohnehin einiges ab: Dreck und Nässe von unten. Kurt Stefan betont deshalb, dass am Rad selbst – neben einer guten Beleuchtung und der Pflege von Kette und bewegten Teilen – jetzt Kotflügel das Um und Auf sind.

Gore-Tex-Pro-Hose "Thunder Pant" von 7mesh (300 Euro).
Foto: Hersteller

Vor allem vorn: "Der meiste 'Spray' (also Wasser und Dreck) kommt nicht von den Autos ringsum, sondern den eigenen Reifen. Ohne Kotflügel kriegen hinten Jacke und Rucksack alles ab, aber vorne fliegt alles in Hose und Gesicht." Als "best practice" verweist Stefan – erraten – nach Kopenhagen: Schutzbleche reichen dort oft tiefer als das Kettenblatt.

"Dazu improvisieren viele mit Lappen, die fast am Boden schleifen." So geschützt lässt es sich dann sogar mit den von Großbritanniens Presse gerade als "neues heißes Ding" gehypten Bike-Ponchos von Labels wie The Peoples Rainwear trocken zur Arbeit radeln: Die Dinger lassen sich an Lenker und Hüfte festmachen, reichen tief – und man kann drunter auch Anzug, Hemd oder Officeoutfit tragen.

Radeln mit Hausverstand

Denn auch wenn die wenigen, die hierzulande derzeit durch Herbst und Winter radeln, meist immer noch Kurz Stefans "Wie vom Berg"-Sager bestätigen, ist das anderswo längst nicht so: Kopenhagen trägt, was das Wetter, und nicht, was das Narrativ vorgibt.

Und dazwischen liegen Welten: 2018 analysierte die Radlobby Österreich die Niederschlagshäufigkeit in Österreichs Landeshauptstädten zwischen 2015 und 2017 und verglich die Werte mit jenen Kopenhagens und Amsterdams. Und siehe da: Dort regnet es signifikant öfter und noch dazu mehr.

Und so schaut Radlobby-Sprecherin Ines Ingerle fast schon neidisch in den Norden, wenn sie darauf hinweist, dass die beiden imaginären jungen Frauen, die in Kopenhagen in den windigen Herbstregen radeln, weder Spezialausrüstung brauchen, noch Survivalspezialistinnen sind: Ärmel, die lang genug sind, Schal, Mütze und Handschuhe genügen – "und Hausverstand: Was man bei schlechtem Wetter anzieht, verrät ein Blick aus dem Fenster. Wieso soll das am Rad anders sein?" (Thomas Rottenberg, RONDO, 2.11.2020)