Joe Biden plädierte in Warm Springs für eine Heilung der Gesellschaft – geißelte aber auch die Politik seines Konkurrenten Donald Trump. Später trat er auch in der Hauptstadt Atlanta auf. Mithilfe der demokratischen Metropole hofft er auf einen Sieg im traditionell republikanischen Georgia.

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Washington – Warm Springs ist ein Ort, der vor allem älteren Semestern unter den US-Wählerinnen und -Wählern noch in Erinnerung ist. Oder solchen, die eine besondere Art der Amerika-Sentimentalität pflegen. Und daher ist das 425-Einwohner-Städtchen im Westen Georgias auch so etwas wie ein natürlicher Anziehungspunkt für die Wahlkampagne des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden. Am Dienstagabend fand sich Biden tatsächlich im Ort ein, der in den 1920er- und 1930er-Jahren zu einem Zweitdomizil des späteren demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt wurde. Roosevelt erhoffte sich von den nahen Mineralquellen Linderung seiner Kinderlähmungs-Beschwerden. Biden plädierte bei seinem Besuch eindringlich für eine Heilung in der zerrissenen US-Gesellschaft.

Mit seinem Konkurrenten, Präsident Donald Trump, ging Biden dennoch nicht zimperlich um. Um als Gesellschaft zu gesunden, sei es nötig, "die Scharlatane, die Betrüger, die falschen Populisten in die Schranken zu weisen, die mit unseren Ängsten und unseren schlimmsten Geschmäckern spielen", sagte er – freilich ohne seinen Konkurrenten direkt anzusprechen.

Hilfe für den Senat

Dass Biden überhaupt Georgia besuchte, einen sonst solide republikanischen Staat, wurde von seinen Anhängern als Zeichen der Hoffnung ausgelegt. Wenn der Kandidat in der letzten Woche vor der Wahl in einem Bundesstaat auftauche, dessen Wahlleutestimmen er wohl gar nicht benötige, um Präsident zu werden – dann sei das wohl ein gutes Zeichen. Und tatsächlich: Umfragen sehen Georgia für die Demokraten diesmal in Griffweite. Teil der Kalkulation ist auch der Griff nach dem Senat: Gleich zwei Rennen für die Kammer werden in Georgia diesmal ausgetragen – beide könnten denkbar knapp ausfallen. Ein Auftritt Bidens im Bundesstaat könnte Gelegenheitswähler motivieren, an die Urnen zu schreiten – und dann neben dem Präsidentenrennen auch gleich ihre Stimmen für die demokratischen Kandidaten Jon Ossoff und Raphael Warnock abzugeben.

Andere fühlten sich freilich an Fehler aus dem Jahr 2016 erinnert. Damals trat Kandidatin Hillary Clinton viel zu selten in den Midwest-Bundesstaaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania auf, weil sie diese mit Blick auf scheinbar klare Umfrageführungen als sichere Bank erachtete. Donald Trump fand darin eine Schwäche der Demokratin, reiste immer wieder dorthin – und gewann schließlich alle drei Staaten mit hauchdünnem Vorsprung. Das soll den Demokraten nicht wieder passieren, auch wenn die Umfragen diesmal etwas weitere Abstände prognostizieren, als sie dies 2016 taten. Wenn Biden anderswo ist, treten daher die sonstigen Stars der Demokraten für ihn auf.

Eifersucht auf das Coronavirus

Bidens ehemaliger Chef, Barack Obama, zählt dazu. Er hatte sich lange aus dem Wahlkampf herausgehalten, meldete sich aber zuletzt immer häufiger zu Wort, zuletzt war er etwa in Pittsburg, Pennsylvania. Am Dienstag hielt er hingegen in Florida eine Rede. Und von vornehmer Zurückhaltung war dabei endgültig nichts mehr zu spüren. Obama setzte im Gegenteil auf harte, teils auch ätzende Kritik an seinem Amtsnachfolger, versuchte diesen auch immer wieder ins Lächerliche zu ziehen. Trump sei den ganzen Tag damit beschäftigt, fernzusehen – statt Dinge zu tun, die den Menschen helfen würden, sagte Obama etwa. Der Präsident sei zudem zu faul, um sein Geheimdienstbriefing zu lesen, und zu weinerlich, um sich in Interviews harten Fragen zu stellen. Und außerdem, so Obama, sei Trump offenbar eifersüchtig auf das Coronavirus, "weil es öfter im Fernsehen ist als er". Der Präsident hatte in den vergangenen Tagen ja immer wieder kritisiert, dass die Medien im Wahlkampfendspurt die steigenden Zahlen an Corona-Neuinfektionen ins Zentrum rücken.

Das nämlich könnte für ihn zum Problem werden. Joe Biden hat sich laut Demoskopen bei der Brief- und bei der vorzeitigen Wahl einen deutlichen Vorsprung erarbeitet, und es zeichnet sich eine hohe Wahlbeteiligung ab. Bereits jetzt haben 69 Millionen US-Bürger ihre Stimme abgegeben. Das entspricht mehr als der Hälfte aller Stimmen, die bei der Wahl vor vier Jahren insgesamt abgegeben wurden. Trump muss nun darauf hoffen, am Wahltag all seine Anhänger an die Urnen zu locken. Damit, dass ihm das im Wesentlichen gelingen wird, rechnen zwar die meisten Beobachter. Doch wenn der Ärger über das Corona-Management des Präsidenten wieder steigt, könnte der ein oder andere Trump-Freund vielleicht doch zu Hause bleiben.

Während für Biden Barack Obama auf Wahlkampftour geht, tat dies für Trump am Dienstag dessen Ehefrau und First Lady Melania Trump. Bei ihrem ersten Solo-Wahlkampfauftritt in Atglen, Pennsylvania, gab sie sich kämpferisch und sprach den Hinterbliebenen der mehr als 225.000 Corona-Toten in den USA ihr Mitgefühl aus. "Wir werden über dieses Virus triumphieren", fügte sie hinzu.

Schützenhilfe für Trumps Argument

Die unterschiedliche Wählerschaft (Urnenwähler für Trump, Briefwähler für Biden) wird allerdings einen weiteren Effekt haben: Weil viele Bundesstaaten im Mittleren Westen ihre Briefwahlstimmen erst nach jenen der Urnenwahl auszählen, wird Trump am Wahlabend wohl in den wichtigen Staaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania eine deutliche Führung haben – die sich dann Schritt für Schritt abbauen wird. Letzteres freilich will der Präsident verhindern. Seit Wochen spricht er daher von vermeintlichem Betrug bei der Briefwahl – und davon, dass das Ergebnis schon am Wahltag feststehen müsse.

Trump und die Republikaner haben in mehreren Bundesstaaten Klage gegen Gesetze eingereicht, die ein Auszählen von Stimmen auch dann erlauben, wenn sie erst nach dem Wahltag einlangen – aber vor diesem abgeschickt wurden. Einer dieser Klagen gab der US Supreme Court am Montagabend recht. Im Bundesstaat Wisconsin dürfen verspätet eingetroffene Wahlzettel damit nicht mehr gezählt werden. Der von Trump nominierte Richter Brett Kavanaugh übernahm in seiner Urteilsbegründung die Argumente des Präsidenten. Würden Stimmen auch nach dem Wahltag noch gezählt, könne dies "das Ergebnis umdrehen und so für Vertrauensverlust in die Wahl sorgen", hielt er in seiner Rechtsmeinung fest, die alle fünf bisherigen konservativen Höchstrichter unterzeichneten. Die von Obama nominierte Höchstrichterin Elena Kagan hielt dagegen: Wenn nicht alle Stimmen ausgezählt würden, könne es auch kein Ergebnis geben, das "umgedreht" werde.

In Wisconsin haben die Demokraten nun mit einer Eilkampagne reagiert, in der sie Anhänger auffordern, noch ausständige Wahlbriefe nicht mehr einzuschicken – sondern sie in Wahlboxen einzuwerfen. Andernfalls könnten die rund 300.000 noch fehlenden Stimmen verloren gehen. Auch in vielen anderen Bundesstaaten wächst nun die Sorge vor Eingriffen der Justiz in die Wahl. Im womöglich entscheidenden Staat Pennsylvania etwa läuft ein ähnlicher Prozess, der ebenfalls bald vor dem Höchstgericht landen könnte. Und dieses ist seit Montagabend ja um eine konservative Stimme reicher.

Dass die US-Wahl auch vor Eingriffen von außen nicht gefeit ist, zeigt einmal mehr, dass am Dienstagabend die Website von Trump kurzzeitig gehackt wurde. Es erschien die Aussage: "Diese Seite wurde beschlagnahmt. Die Welt hat genug von den Fake-News, die täglich von Präsident Donald J. Trump verbreitet werden." Nach wenigen Minuten funktionierte die Seite wieder normal. Die Hintergründe waren zunächst unklar. (Manuel Escher, 28.10.2020)