Tayyip Erdoğan wirft Emmanuel Macron geistige Umnachtung vor.

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Mit scharfen Worten hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Dienstag auf eine Karikatur seiner Person in der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" reagiert. Er nannte die Zeichnung "obszön" und einen "widerwärtigen Angriff" und kündigte in einer Rede vor der Fraktion der regierenden AKP juristische Schritte an. Die Staatsanwaltschaft in Ankara hat bereits Ermittlungen gegen "Charlie Hebdo" eingeleitet. Frankreichs Regierungssprecher hat sich daraufhin eine Einschüchterung der französischen Presse durch die Türkei verbeten.

Mit der Karikatur, die Erdoğan auf der Titelseite des Magazins in Unterhosen zeigt, wie er einer verschleierten Frau unter das Kleid greift und deren Hintern entblößt, ist der Konflikt zwischen der Türkei und Frankreich in eine neue Runde gegangen. Nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron in einer Rede anlässlich der Ermordung des Lehrers Samuel Paty durch einen mutmaßlichen Islamisten vergangene Woche eine Reform des Islam gefordert hatte, hat Erdoğan ihm geistige Umnachtung vorgeworfen und ihn aufgefordert, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben.

Aufruf zur Wachsamkeit

Erdoğan ließ den Streit eskalieren, indem er gar zum Boykott französischer Waren aufrief. Der Konflikt führte zu antifranzösischen Demonstrationen in der Türkei und in weiteren islamischen Ländern, darunter im Irak und in Syrien, aber auch in Bangladesch, Pakistan und Indonesien. Frankreich rief seine Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern mittlerweile zu Wachsamkeit auf, sie sollten sich von allen Menschenansammlungen fernhalten.

Erdoğan, der sich im Streit mit Frankreich als Wortführer der islamischen Welt aufspielt, hat bereits den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders angezeigt, der ebenfalls eine Karikatur Erdoğans verbreitete. Sie zeigt ihn als islamistischen Terroristen. Der türkische Staatschef warf darauf den Politikern in Europa insgesamt vor, dass sich unter ihnen die Feindseligkeit gegen den Islam wie ein "Krebsgeschwür" ausbreiten würde. Zuvor hatte er führende Politiker bereits als Faschisten beschimpft.

Dass ausgerechnet Erdoğan, der selbst vor keiner Verbalattacke zurückschreckt, die scharfe Rede Macrons bei der Gedenkfeier für Samuel Paty zum Anlass nahm, den französischen Präsidenten so massiv anzugreifen, hat mehrere Gründe. Er kann damit von innenpolitischen, insbesondere wirtschaftlichen Problemen ablenken, aber er spitzt damit auch einen Konflikt weiter zu, der schon viel länger schwelt.

Mehrere Konfliktpunkte

Die türkische und die französische Führung liegen in vielen Punkten über Kreuz – angefangen beim Kampf um Öl- und Gasvorräte in Libyen über die Unterstützung Macrons für Griechenland beim türkisch-griechischen Konflikt über Hoheitsgebiete im Mittelmeer bis hin zum Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, in dem die Türkei Aserbaidschan und Frankreich Armenien unterstützt.

Der Krieg im Kaukasus erinnert auch daran, dass Frankreichs Parlament den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich nicht nur anerkennt, sondern seine Leugnung sogar unter Strafe stellt, während die Türkei bis heute systematischen Völkermord bestreitet.

Ob der verbal so lautstark ausgetragene Konflikt im realen Leben große Auswirkungen haben wird, ist eher zweifelhaft. Der Boykott französischer Waren findet eher symbolisch statt und würde, wenn er ernsthaft durchgesetzt würde, eher der Türkei als Frankreich schaden. Denn die türkische Autoindustrie, eine der letzten Branchen in der Türkei, die derzeit noch Gewinne erzielen, ist auf Lieferungen aus Frankreich dringend angewiesen, um die französischen Lizenzfertigungen von Renault und Peugeot weiter durchführen zu können.

Für zukünftige Gespräche der Türkei mit der EU, sei es wegen der Zollunion oder wegen des Flüchtlingsabkommens, könnte sich der so heftig inszenierte Streit aber als schwere Hypothek erweisen. (Jürgen Gottschlich, 28.10.2020)