Wie die Blätter im Herbst färbt sich Deutschlands Ampelkarte nach und nach rot ein. Fast nur im Osten finden sich noch gelbe Flächen.

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Angela Merkel sah müde aus unter ihrer FFP-2-Atemschutzmaske, die sie vor der mit Spannung erwarteten Videokonferenz mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der 16 deutschen Bundesländer am Mittwoch trug. Wieder einmal muss die Kanzlerin im Herbst ihrer politischen Laufbahn ihr Volk auf schwere Zeiten einschwören. Schafft Merkel das?

Deutschland stünden vier sehr harte Monate im Winter bevor, deshalb müsse man schnell und entschlossen reagieren, hieß es in einem vorab kursierenden Beschlusspapier der Bundesregierung. Und: "Je später die Infektionsdynamik umgekehrt wird, desto länger beziehungsweise umfassender sind Beschränkungen erforderlich."

Verpuffende Maßnahmen

Tatsächlich erklimmt die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland – so wie in Österreich – seit Wochen nahezu Tag für Tag neue Höhen, am Mittwoch meldete das Berliner Robert-Koch-Institut 14.964 neue Ansteckungen binnen 24 Stunden zwischen Kiel und Kiefersfelden. Die Ampelkarte bei unserem großen Nachbarn verfärbt sich im Herbst wie die Blätter im Wald rot bis dunkelrot. Dazu kommt, dass die bisher gesetzten Maßnahmen, etwa die rigoroser als hierzulande durchgesetzte Maskenpflicht in Geschäften, offenbar weitgehend verpuffen.

Ein Ruck müsse durch Deutschland gehen, um vor dem Corona-Winter nicht die Kontrolle über das Infektionsgeschehen zu verlieren, war sich die Politik schon vor der entscheidenden Videokonferenz mit den Ländern einig.

Nun sollen drastische Schritte die Trendwende bringen – und das, obwohl Deutschland laut 14-Tage-Inzidenz des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) mit 156,2 Fällen pro 100.000 Einwohner noch deutlich geringere Infektionszahlen aufweist als Österreich (338,5). Die deutsche Bundesregierung verfügt freilich über vergleichsweise geringere Durchschlagskraft, was die Corona-Maßnahmen der einzelnen Länder betrifft.

"Absolut nötiges Minimum"

Am Nachmittag bemühte man sich in Berlin unter dem Eindruck der jüngsten Infektionszahlen jedenfalls, Nägel mit Köpfen zu machen. Konkret: Viele Einschränkungen, wie sie Deutschland und Österreich noch aus dem Frühling kennen, kehren nun im Herbst zurück. "Die Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren", heißt es. Maximal zehn Menschen sollen sich in der Öffentlichkeit treffen dürfen. Und: Ab dem 2. November sollen in ganz Deutschland sämtliche Gastronomiebetriebe sowie alle Freizeit- und Sporteinrichtungen für knapp vier Wochen schließen, Beherbergungen sollen nur noch für Dienstreisen erlaubt sein. Industrie und Handwerk, Schulen und Kindertagesstätten sollen dagegen nach den Plänen der Bundesregierung und der Länder offen bleiben. Nach zwei Wochen soll evaluiert werden, ob die Maßnahmen Früchte getragen haben.

Ähnlich wie im Frühling soll das öffentliche Leben – etwa Kultur, Freizeitsport oder Diskotheken – vollständig zum Erliegen kommen. Kulturstätten, Messen, Freizeitparks und Spielhallen sollen laut den Plänen der Bundesregierung dichtgemacht werden, auch Fitnessstudios müssen eine Pause einlegen. Lieferservice soll aber ebenso erlaubt bleiben wie Friseure und Physiotherapeuten. Ziel sei es, "zügig die Infektionsdynamik zu unterbrechen, damit in der Weihnachtszeit keine weitreichenden Beschränkungen" nötig seien.

Aus der Opposition kam schon die erste Kritik, noch bevor die Einigung zwischen Bund und Ländern feststand. FDP-Chef Christian Lindner geht die angekündigte Schließung der Gastronomie gegen den Strich. Schließlich seien von Cafés und Restaurants bisher nur wenige Infektionen gemeldet worden – auch eine Parallele zu Österreich, wo man noch über ähnliche Maßnahmen nachdenkt.

Am Donnerstag treffen sich die 27 Staats- und Regierungschefs der EU in einer eilig einberufenen Videokrisensitzung, um über die Pandemie zu diskutieren. Denn in ganz Europa droht ein harter Winter. (Florian Niederndorfer, 28.10.2020)