Das Leben auf Distanz und in Maskierung befördert eine geisterhafte Welt. Der geltende Theatermodus ist aber noch das kleinere Übel.

Claudio Gaertner

Als ein zweiter Lockdown noch in weiter Ferne schien, da witzelte das Magazin New Yorker: Ein Theater zu besuchen, das sei so riskant, wie beliebigen Menschen in der U-Bahn Zungenküsse zu verabreichen und dann ausgiebig die Haltestange abzulecken. Der Scherz würde auch heute, da die Gesamtlage wieder düster ist, noch durchgehen, da Theaterhäuser und vergleichbare Einrichtungen wie Kino- oder Konzertsäle sich bis dato als keine auffälligen Ansteckungsschauplätze erwiesen haben. Doch der Humor ist auf dem Rückzug. Die Pandemie hat (auch) das Theater schon jetzt in vielerlei Hinsicht nachhaltig verändert. Wie ist der Zwischenstand, und wie werden die Bühnen künftig beschaffen sein?

1. Theater ist (nicht) systemrelevant

Im Theater werden weiterhin keine lebensrettenden Operationen durchgeführt und wird kein Klopapier verkauft, aber der Begriff der Systemrelevanz (der große Chancen auf die Auszeichnung "Unwort des Jahres" hat) ist ein weites Gebiet. Denn wie sehr die heimische Tourismusindustrie auf einer funktionierenden Kulturlandschaft fußt, wie viele Berufszweige mit dem des künstlerischen Personals unmittelbar zusammenhängen und wie sehr das Theater als öffentlicher Ort des sozialen und intellektuellen Austauschs fehlen würde, das hat der Lockdown auch all jenen gezeigt, die kein Theaterabo haben. Diese vieldiskutierten Fakten haben den Stellenwert des Theaters gehoben.

2. Hierarchien verschieben sich

Kultur ist eine der von den Pandemiemaßnahmen wirtschaftlich am stärksten betroffenen Branchen – die Politik hat dafür mit überlebensnotwendigen Finanzierungs- und Förderpaketen zu einem großen Teil auch die Verantwortung übernommen. Einerseits brachte dies vorherrschende strukturelle Ungleichheiten noch deutlicher zum Vorschein: Institutionalisierte Häuser können sich weitgehend auf staatliche Rettungsschirme verlassen, während die freie Kunstproduktion kaum abgesichert ist – insbesondere längerfristig.

Innerhalb dieses Gefälles aber können sich Hierarchien andererseits auch verschieben. Denn die freie Szene agiert per se im Ungesichertsein und ist im prekären Arbeiten geübt, während Riesentanker, die möglicherweise bald mit massiven Einsparungen konfrontiert sein werden, vor große Aufgaben gestellt werden. Dass dies jede Bühne gut übersteht, ist nicht gesichert. Auch sind kleinere Ensembles im Reagieren auf kurzfristige Maßnahmen besser disponiert und generell wendiger.

3. Theater wird regionaler

Globalität war einmal. Die massiven Reisebeschränkungen bremsen die fahrende Zunft aus, vor allem den Festivalbetrieb, der sich aus internationalen Ensembles und Acts speist, die weder zusammen proben noch auftreten können. Die Abschottungspolitik setzt einen Renationalisierungsprozess in Gang, der der Neugier und Weltoffenheit entgegensteht und der mit der Möglichkeit auch die Gedanken an ein überregionales Theater derzeit komplett ausblendet. Dass kürzlich die Münchner Kammerspiele, immerhin eines der bedeutendsten Häuser im deutschen Sprachraum, unter der Intendantin Barbara Mundel neu gestartet sind, wurde in Österreich kaum bemerkt. Zudem werden Theaterleitungen ihre Produktionsteams in absehbarer Zukunft wohl geografisch vorsichtig zusammensetzen.

4. Kein künstlerisches Neuland

Der Lockdown ließ die Stunde des Digitaltheaters schlagen. Plattformen wurden gegründet, Schulungen in technischer wie in digitaldramaturgischer Hinsicht angetreten. Wer dann noch keine stabile WLAN-Verbindung hatte, wurde nicht mehr ernst genommen. Das brachte einigen Häusern und Ensembles gewiss einen beachtlichen Modernisierungsschub. Andererseits ging mit den dabei – oft im Schnellverfahren – entwickelten neuen Digitalformaten eine Ernüchterung einher. Es wurde rasch klar, dass exklusive Onlinekonzepte nur additiv bzw. als kleiner Nebenschauplatz am Theater Relevanz erlangen können. Das in dieser Zeit gefeierte Internet ist "ein gigantischer Nichtort", wie es Arne Vogelsang im soeben erschienenen Buch Lernen aus dem Lockdown? (Alexander-Verlag) bezeichnet. Bemerkenswert auch, dass mit dieser Zeit keinerlei künstlerische Neulandgewinnung einherging (Game-Theater gab es vorher schon). Zumal in einem geradezu historischen Moment das Damoklesschwert des Auslastungsdrucks völlig wegfiel.

5. Theater ist live und vor Ort

Trotz des in den letzten Monaten erfolgten Barriereabbaus zwischen Theater und Virtualität erweist sich die darstellende Kunst in Zeiten von (drohenden) Schließungen doppelt und dreifach als Kunst des Moments, die auf Kopräsenz und Echtzeit fußt und die künstlerisches wie soziales Ereignis gleichermaßen ist. Weil sie Leute aufweckt und jenseits ihrer Nischen zusammentrommelt. (Margarete Affenzeller, 30.10.2020)