Zoom-Gespräch statt Wien-Besuch.

Trump nennt ihn "Sleepy Joe", Martin Schneider meint, Ruhe sei genau das, was die USA jetzt politisch bräuchten.

Foto: AFP

"Hi, wie geht's Dir? Lange nicht gesehen!" Martin winkt mir zu. Er sieht eigentlich aus wie immer – nur die Art und Weise, wie wir einander begegnen, ist anders als sonst. Martin winkt via Zoom aus Los Angeles. Ich winke aus Wien und frage zurück: "Wie geht's Dir?" "Gut", sagt er und kommt ohne Umschweife zum Grund unseres Zoom-Meetings, "ich habe ein gutes Gefühl, Biden wird gegen Trump gewinnen." Vor kurzem, sagt Martin, seien die Trump-Fans irgendwie stiller geworden. Er muss es wissen, er lebt in einem Swing State, in Ohio.

Martin wollte eigentlich schon im Sommer nach Österreich kommen, seine Verwandten besuchen – da hätten wir uns bestimmt getroffen und uns, wie immer, einen Abend lang durch die US-Politik gewurschtelt. Corona machte uns einen Strich durch die Rechnung.

Ein Umzug mit Folgen

Ich kenne Martin schon lange. Auch langjährigen STANDARD-Leserinnen und -Lesern ist der Name Schneider höchstwahrscheinlich ein Begriff. Martins Mutter Susi Schneider war lange Jahre USA-Korrespondentin dieser Zeitung, sie war eine lebhafte, lustige und überaus gescheite Person, die stets fundierte und tiefe Einblicke in die Seele dieses komplizierten Landes gab. Susi lebte in Croton-on-Hudson, etwas nördlich von New York, sie konnte die Eigenheiten und Widersprüchlichkeiten der amerikanischen Ostküste in unnachahmlicher Ironie zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Ärmel schütteln.

Ihr heute 50-jähriger Sohn hat den Journalismus geschickt vermieden, ist aber dem geschriebenen Wort verbunden wie Susi. Martin ist Lektor, er arbeitet für große Verlage wie Random House, und er hat für sich die Mitte Amerikas erschlossen. Nach Susis Tod 2009 zog Martin erst nach Staten Island, N.Y., danach nach Cleveland, wo der wirtschaftliche Niedergang mächtiger Industrien bis heute Narben trägt. Viele Menschen hier fühlen sich von den Regierenden in Washington, D.C., im Stich gelassen.

Die Sache mit der Schlange

Dennoch war Martins Schock kein geringer, als sein neuer Heimatstaat 2016 mehrheitlich für Donald Trump votierte. Martin ist Demokrat, er macht kein Hehl aus seiner politischen Einstellung. Sein diesmal gutes Gefühl stützt sich auf einen noch immer signifikanten Umfragenvorsprung von Joe Biden und die Tatsache, dass Nate Silver auf seiner Website FiveThirtyEight Biden stabil als Sieger ausweist.

Auf Nate Silvers Website ist auch die "Snake" zu sehen – sie zeigt alle 50 Bundesstaaten in Form einer Schlange, die sich von tiefblau (demokratisch) bis tiefrot (republikanisch) färbt. Jeder einzelne Bundesstaat stellt ein Glied in der Schlangenkette dar, seine Färbung richtet sich nach den aktuellen Umfrageergebnissen. Die Schlange ist wenige Tage vor der Wahl sehr stark blau gefärbt.

Der Vorteil von Schläfrigkeit

Martin ist gerade in Los Angeles, auf Kurzbesuch bei Freunden. Eine Woche lang ist er mit dem Auto hierher gefahren, mit einem Toyota Prius mit Hybrid-Antrieb. "Ein Demokraten-Auto" nennt er es. "Wenn du mit einem Hybrid-Auto fährst, weiß jeder, dass Du nicht Trump wählst." Martin hatte kurz überlegt, einen Magneten mit Trump-Logo aufs Auto zu kleben, um dessen Fans augenzwinkernd zu verwirren – es dann aber gelassen. "Viele verstehen keinen Spaß", sagt er. Er erklärt, warum Biden momentan genau der richtige Kandidat sei: "Wir normalen Leute sind von all dem Streit und dem permanenten Aufruhr, den die Trump-Administration ins Land gebracht hat, erschöpft. Dazu kommt noch sein katastrophales Corona-Management. Wir brauchen Ruhe." Biden, von Trump mit Vorliebe "Sleepy Joe" genannt, strahle diese Ruhe aus.

Freilich gibt es da noch jenen erklecklichen Anteil an Trump-Wählern, die immer Trump wählen würden. "Sie verstehen nichts von den komplizierten Details von Politik und wollen auch nichts davon verstehen", sagt Martin. Corona sei für sie gar keine richtige Krankheit – die Menschen stürben in Wahrheit an etwas anderem. Diese Menschen, mehrheitlich männlich, weiß, ländlich, fänden Trump einfach lustig und unterhaltsam – und vor allem: Anti-Establishment, erklärt Martin. Aber die breite Mitte der USA, wie Martin sie sieht, hätte das Auseinanderdividieren der Menschen, den strukturellen Rassismus, den grassierenden Sexismus, den Trump bei seinen Auftritten auslebt und vorführt, einfach satt.

Keine Angst vor Backlash

Auf Twitter stellt sich Martin manchmal gegen den Mainstream US-amerikanischer Journalisten, die meinen, Biden würde im Falle eines klaren Wahlsiegs wohl dasselbe blühen wie einst Obama: Der Backlash der Republikaner, die offene Obstruktion gegen einen demokratischen Präsidenten und seine Administration, wäre gewaltig.

Martin ist anderer Meinung: Biden werde nicht so spalten wie Obama, meint er. Er sei ein freundlicher, weißer alter Herr – das sei in diesem Fall ein Vorteil. Und nach der Pandemie und deren wirtschaftlichen Folgen hätten Schlagworte wie Grundeinkommen, Krankenversicherung für alle oder Klimaschutz für viele Amerikaner ihren Schrecken verloren. Zudem, so hofft er, gebe es immer noch viele vernünftige Republikaner, die darauf drängten, mehr in die Mitte zu rücken – so wie das früher einmal war.

Wie es früher war

Ein Beispiel dafür, wie es früher war, ist Martins Vater Ernie Schneider. Ernie, ein marktliberaler Demokrat, arbeitete einst für das Hudson Institute, einen republikanischen Thinktank. Dessen Chef, Herman Kahn, hegte eine starke Abneigung gegen alles, was nach einem Sozialstaat europäischen Zuschnitts roch. Ernie Schneider dagegen hatte als ehemaliger Mitarbeiter von Radio Free Europe genau das schätzen gelernt. Und der Konservative Kahn holte den Demokraten Schneider in seine politische Denkfabrik.

"Amerika hat Fieber und eine riesige Fieberblase", behauptet Martin. Diese werde am 3. November platzen, glaubt er – und dann werde auch das giftige Fieber, das die Bevölkerung unter Trump erfasst habe, fallen.

Es ist noch früh in L.A., Martin sitzt unter einem prächtig belaubten Baum, durch den die Morgensonne flirrt. Seine sommerliche Stimmung entspricht der kalifornischen Wetterlage – und sie strahlt bis ins herbstliche Wien, wo es schon dunkel ist. (Petra Stuiber, 29.10.2020)