Wolfgang Kreutzer, AHS-Lehrer in Niederösterreich, sieht keinen Grund, ein eigenes Schulfach "Finanzen" einzuführen. Er argumentiert in seinem Gastkommentar aus der Sicht eines Lehrenden.

Nikolaus Jilch vom Thinktank Agenda Austria ist an dieser Stelle angetreten, um eine Lanze für das Schulfach "Wirtschaft und Finanzen" zu brechen. Das von ihm angeführte "Sprechen über" geht an der Sache vorbei, das wissen alle Unterrichtenden, die sich mit wohlgemeinten Ratschlägen aus Thinktanks und Gelehrtenstuben konfrontiert sehen.

Wie ist es um das Wissen rund um die Finanzwelt bei den Schülerinnen und Schülern bestellt? Expertinnen und Experten streiten derzeit über den Mehrwert eines eigenen Schulfachs.
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Werfen wir doch einen Blick in die Praxis einer AHS-Klasse: Dort sieht der Lehrplan für Geografie und Wirtschaftskunde über die Dauer von acht Jahren wirtschaftsbezogene Themen vor, das von Jilch zitierte Wissensdefizit in Bezug auf Zinsen wäre lehrplankonform beispielsweise in der zweiten oder dritten, allerspätestens jedoch in der fünften oder siebten Klasse zu beheben. Wie? Dazu fällt dem Kommentator ein, dass es sich in Sachen Finanzsystem um eine Art "Fremdsprache" handle, die es zu erlernen gelte. "Finanzwissen" schütze dann sowohl gegen den persönlichen Wirtschafts- als auch gegen den Wissensbankrott.

Was unter dem herbeigesehnten Finanzwissen zu verstehen ist, das zeigt ein Blick auf zahlreiche von Lobbyverbänden gestaltete Materialien: Wirtschaft präsentiert sich dort als einseitig formuliertes, enzyklopädisches Wissen, das auswendig zu lernen ist. Die Pädagogik bezeichnet das als "träges Wissen", das für Alltagshandlungen minimale Bedeutung hat.

"Wir leben nun mal in einer Marktwirtschaft. Der Markt regelt viele Bereiche unseres Lebens. Das wird sich so schnell nicht ändern. Die technische Revolution sowie die Globalisierung verstärken den Trend eher noch. Das bedeutet: Finanzfragen werden im Alltag immer wichtiger. Wer die Botschafter dieser Fakten als ,Fundamentalisten‘ beschimpft und sie abkanzelt, legt nur seine eigenen Berührungsängste mit der Realität offen."
Nikolaus Jilch, Agenda Austria
"Welchen bildungspolitischen Stellenwert hat etwa eine Wissensüberprüfung, die sich daran bemisst, welcher Prozentanteil der Befragten den Begriff ,Fonds‘ richtig erklären konnte? Gar keinen, denn das bedeutet noch lange nicht, dass jene kompetent mit Fonds in ihrem Alltag umgehen können."
Christian Fridrich, Prof. für Geographische
und Sozioökonomische Bildung

Persönliche Schlüsse ziehen

Meine Schülerinnen und Schüler erlernen keine "Fremdsprache Finanzen". Ein enzyklopädisches und in Umfragen abrufbares Begriffswissen von A wie "Aktie" bis Z wie "Zinseszins", gepaart mit einer systematischen Grammatik der Wirtschaft, reicht nicht aus, um das Leben bestreiten zu können. Diese Art des Unterrichts habe ich selbst sechs Jahre lang im Fach Latein genossen. Bilanz: Ich weiß zwar bis heute, was ein Ablativus absolutus ist, und weiß um die Herkunft vieler Fremdwörter Bescheid. Geht das nicht an den Lebensbedürfnissen vorbei?

Das Erlernen einer "Fremdsprache Finanzen" scheint mir unter den genannten Vorzeichen ähnlich praxisrelevant. Es vergibt die Chance, Zusammenhänge zu verstehen, Wirtschaftssysteme zu hinterfragen, etwa das Versagen der Finanzmärkte zu begreifen und – am wichtigsten – persönliche Schlüsse für Handlungsoptionen zu ziehen.

Meine Schülerinnen und Schüler können etwa mit elf Jahren Einnahmen und Ausgaben planen. Sie tun das nicht losgelöst von der sie umgebenden Welt, sondern mit Blick auf die Verführungen der Werbewirtschaft. Mit 13 können sie einfache Bankgeschäfte erledigen. Zinsen werden ausführlich in Anwendungsbeispielen diskutiert, die Gefahr von Schuldenfallen noch ausführlicher. In der Sekundarstufe II können sie unter anderem ihr eigenes Mobilitätsverhalten vor dem Hintergrund der Klimawende kritisch einschätzen und alternative Mobilitätskonzepte benennen und anwenden. Ein thematisch begründeter Nebeneffekt: Sie können in Grundzügen Finanzierungsformen eines Pkws oder des ersten Mopeds skizzieren.

Kritisches Denken

Ein fundiertes Wissen über demografische Grundfragen – Bevölkerungsstruktur, Migration, Überalterung – ist Voraussetzung, um sich erstmals mit der Ausgangslage für die eigene Pension zu beschäftigen. In der Oberstufe können die Lernenden also die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft erklären und für ihr Leben Schlüsse daraus ziehen. Die Jugendlichen können Geld in unterschiedlichen Formen anlegen, und sie wissen, warum sie sogenannten Finanzdienstleistern und wohlmeinenden Bankberatern mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnen werden. Risiken und Nebenwirkungen eines Kredits können sie ausreichend einschätzen. Was faule Kredite in einer globalisierten Finanzwelt anrichten, wissen sie ebenfalls. Die Spur der Verwüstung, die die Finanzkrise von 2008 in der Realwirtschaft hinterlassen hat, kommt somit ebenso zur Sprache wie die Undurchschaubarkeit der globalen Finanzwirtschaft sowie Chancen und Herausforderungen der Globalisierung – und vieles mehr.

Viel wichtiger noch: Sie wissen um die Gemachtheit von wirtschaftlichen Systemen Bescheid, und sie kennen Alternativen zu gängigen, zumeist neoliberalen Dogmen und Modellen der Marktwirtschaft (Homo oeconomicus, unsichtbare Hand des Marktes etc.), die sie als mündige Lernende kritisch zu hinterfragen wagen.

Aus der Fremdsprachendidaktik wissen wir: Sprachwissen ist nicht gleich Sprachkönnen. Ich bin ein großer Anhänger des Sprachkönnens und des Wirtschaftskönnens im Sinn eines vernetzten, kritischen Denkens und einer Fachdidaktik Geografie und Wirtschaftskunde, die sich zu sozioökonomischer Bildung bekennt.

In der Schule ist ökonomistische Bildung im Sinne einer "reinen Lehre" der Ökonomie eine Sackgasse. Hier sind wir mit unserem Latein sehr rasch am Ende. (Wolfgang Kreutzer, 30.10.2020)