Alexander Gauland nimmt sich kein Blatt vor den Mund.

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Selten zuvor musste Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, ein mit allen Wassern gewaschener Veteran der deutschen Konservativen, so häufig von Amts wegen zu seiner Glocke greifen wie an diesem sonnigen Berliner Donnerstagvormittag, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel offiziell den Corona-Winter einläutete. Adressatin des präsidialen Rüffels: die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD), deren Abgeordnete so gar nicht damit einverstanden waren, was die Kanzlerin ihnen und dem deutschen Volk da per Regierungserklärung kundtat.

"Wir befinden uns zu Beginn der kalten Jahreszeit in einer dramatischen Lage. Die betrifft uns alle. Ausnahmslos", setzte Merkel an – um dann 25 Minuten lang darzulegen, wie ihre Regierung Deutschlands Gesundheitssystem mittels "Lockdown light" vor dem Kollaps zu retten versucht. Die Corona-Pandemie, für Merkel ist sie eine Bewährungsprobe, der man sich gemeinsam stellen müsse.

"Ich verstehe die Frustration"

Was es nun brauche, um die zweite Welle doch noch in den Griff zu bekommen, sei eine "systematische Reduzierung der Kontakte". Auf drei Viertel ihrer privaten Treffen, so die studierte Physikerin, müssten die Deutschen zumindest in den kommenden vier Wochen verzichten. Nur so könne die Ansteckungsgefahr gesenkt werden. Wie das gehen soll, hatte die Bundesregierung zusammen mit den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer schon tags davor kundgemacht: Vom 2. November an bleiben alle Gastronomiebetriebe zwischen Füssen und Rügen dicht, Kultur- und Freizeitsportbetriebe ebenso. Schulen und Kindergärten dürfen hingegen, anders als im Frühling, unter Einhaltung strikter Hygieneregeln offen bleiben. Vor allem der Gaststätten- und Kulturbranche steht nach dem frostigen Frühling nun ein eisiger Herbst bevor. "Ich verstehe die Frustration, ja die Verzweiflung gerade in diesen Bereichen sehr", sagte Merkel und erntete trotz der warmen Worte wütende Zwischenrufe aus den Reihen der Opposition. Und doch, so die Kanzlerin, seien die nun beschlossenen Maßnahmen angemessen und richtig.

Schließlich steige auch die Zahl der Menschen, die auf Intensivstationen betreut würden, bedrohlich, viele Gesundheitsämter schrammten schon jetzt hart an der Belastungsgrenze: "Eine solche Dynamik wird unsere Intensivmedizin in wenigen Wochen überfordern."

"Lüge und Desinformation"

Angesichts der dramatischen Lage – 16.774 neue Infektionen meldete das Robert-Koch-Institut am Donnerstag – sei nun auch nicht die Zeit für populistische Verharmlosungen, mahnte die Kanzlerin. Ein Fingerzeig in Richtung der AfD-Abgeordneten, die Merkel von der Oppositionsbank aus lautstark unterbrachen. Denn, so Merkel, "Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigen nicht nur die demokratische Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus".

Und doch waren es weniger die am Mittwoch beschlossenen Maßnahmen an sich, sondern deren Zustandekommen, das der AfD so sauer aufstieß. Konkret: die ihrer Ansicht nach mangelnde Einbindung des Bundestags und der Landesparlamente. "Lesen Sie nach, was Gewaltenteilung bedeutet", rief einer ihrer Abgeordneten gleich zu Beginn der Kanzlerinnenrede ins Plenum. Tatsächlich hatten Abgeordnete aller Fraktionen zuletzt darauf gedrängt, die gewählten Mandatare bei der Pandemiebekämpfung stärker zu beteiligen. Bundestagspräsident Schäuble mahnte die Abgeordneten hingegen zu mehr Disziplin. Das Land, sagte er, befinde sich in einer außergewöhnlich schwierigen Lage.

"Notstandskabinett"

Alexander Gauland, einst Parteigenosse Schäubles und heute als AfD-Fraktionsvorsitzender Wortführer der Rechtsopposition im Bundestag, ließ derlei – aus seiner Sicht – Abwiegeln bei seiner Rede im Anschluss an jene der Kanzlerin nicht gelten. Einmal mehr forderte er, dass der Bundestag über alle Maßnahmen gegen die Pandemie entscheiden solle. "Eine Corona-Diktatur auf Widerruf verträgt sich nicht mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung", legte er nach. Deutschland habe die Freiheit zu mühselig errungen, "als dass wir sie an der Garderobe eines Notstandskabinetts abgeben".

Einen zweiten Lockdown könnten die Wirtschaft und vor allem der Mittelstand jedenfalls nicht verkraften: "Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben", sagte Gauland – nur um gleich darauf die Toten der Pandemie mit jenen bei Verkehrsunfällen zu vergleichen. Letztere, so der AfD-Politiker, könne man ganz leicht vermeiden, indem man den Straßenverkehr abschaffe.

Hilfe auch für Kleinstunternehmen

Auch die FDP, wie die AfD in Opposition, ließ an der angekündigten Zwangspause für die Gastronomie kein gutes Haar. Für Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki atmen die Beschlüsse von Bund und Ländern einen "undemokratischen Geist". Gerade Gastronomiebetriebe hätten sich besonders um Sicherheit bemüht, sie nun zu schließen sei unfair.

Um die wirtschaftlichen Folgen des erneuten Herunterfahrens zu lindern, verspricht die Bundesregierung hingegen rasche "Nothilfe": Kleine Betriebe sollen 75 Prozent des Umsatzes des Vorjahresmonats erhalten. Bei größeren sollen es 70 Prozent sein. Auch Ein-Personen-Unternehmen sollen entschädigt werden – dem Vernehmen nach hatten die Ministerpräsidenten der Länder während der Verhandlungen mit dem Bund am Mittwoch ihre Zustimmung just von diesem Punkt abhängig gemacht. Bis zu zehn Milliarden Euro sollen den Betrieben über einen Winter helfen, der, so Merkel, zwar lang und kalt werde, aber irgendwann auch einmal vorbeigehe. (Florian Niederndorfer, 29.10.2020)