Ein "Public Intellectual", der Klartext redet: Timothy Snyder.

Foto: APA / Herbert Pfarrhofer

Der Historiker an der Yale-Universität Timothy Snyder ist mit Untersuchungen über das 20. Jahrhundert in Osteuropa bekannt geworden. Die Schreckensgeschichte der Bloodlands, jener blutgetränkten schwarzen Erde, hat er anhand von Dokumenten, Zahlen, Zeugenaussagen akribisch und mit wissenschaftlicher Distanz dokumentiert.

Ganz unakademisch hingegen beginnt sein neuestes Buch: "Als ich um Mitternacht in die Notaufnahme eingeliefert wurde, benutzte ich das Wort ‚Unwohlsein‘ (malaise), um dem Arzt meinen Zustand zu beschreiben. Mein Kopf schmerzte, meine Hände und Füße kribbelten, ich hustete und konnte mich kaum bewegen."

Snyder schildert, wie er in Kliniken in Florida und Connecticut an den Folgen eines Abszesses und mangelnder Aufmerksamkeit fast gestorben wäre. Er schreibt über seine einsame Wut in einem Dämmerzustand zwischen Tagträumen und Todesangst. Die Erfahrung des Spitalsaufenthalts half ihm, "eingehender über die Freiheit und über Amerika nachzudenken".

Beklemmende Abrechnung

Mit dem Ergebnis, Die amerikanische Krankheit, gelingt ihm eine beklemmende Abrechnung mit einem System, das Profit über Menschenleben stellt. Was er abstrakt gewusst hatte, wurde ihm buchstäblich am eigenen Körper klar: dass Gesundheit in seinem Land (und nicht nur dort, möchte man hinzufügen) als Privileg gesehen wird.

Der Satz, dass alle Menschen gleich sind, werde schon bei der Geburt nicht ernst genommen – siehe die je nach Schicht und Vermögen unterschiedlichen Behandlungen und Todesraten – und erst recht nicht im Krankheitsfall. Es könne keine Freiheit geben, schreibt er, wenn es keinen universellen Zugang zum Gesundheitssystem gibt.

Was gerade noch gefehlt hatte, war Covid. Das Virus breitete sich wenige Wochen nach der Hospitalisierung Snyders aus. Es bestätigte und verschärfte alles, was ihm an Mängeln aufgefallen war. Es fokussierte seine Beobachtungen wie ein Brennglas und motivierte ihn, zu der Pandemie Stellung zu nehmen.

Gesunde Opfer

Snyder wäre kein Historiker, wenn er nicht nach Präzedenzfällen in der Geschichte suchte, nach gesellschaftlichen Konstellationen, die einen gefährlichen, ja tödlichen Umgang mit Krankheiten ermöglicht haben. Er fand diese Voraussetzungen in autoritären Regimes, die Epidemien dazu benutzen, "Andere" zu beschuldigen, um eigene Versäumnisse zu leugnen. Er sieht das politische System der USA mittlerweile als gefährlich nahe solchen Vorbildern. Wenn wir Amerikaner, schreibt er, andere als Krankheitserreger und uns selbst als gesunde Opfer sähen, dann seien wir "kaum besser als sie", die Nazis.

Immer wieder kommt Snyder in dem Buch auf seine Erfahrungen und die seiner Familie zurück, speziell in Wien, wo sie ihre Sabbaticals am Institut für die Wissenschaften vom Menschen verbringen. So vergleicht er, wie es seiner Frau, der Historikerin Marci Shore, bei Schwangerschaften und Geburten hier und in New Haven erging.

Obwohl sie in den Staaten in einer von der Universität ermöglichten relativ privilegierten Situation war, kam er zu dem Schluss, "wie katastrophal das gesamte System war und wie viel besser es sein könnte. (...) Wenn Österreich das schafft, warum nicht auch wir?"

Nicht kommerzialisierte Medizin

Wenn auch sein Blick auf die hiesigen Zustände eher rosig ist (er trifft fast nur freundliche Menschen – da wundert man sich als gelernter Wiener), so hilft das immerhin, die Leistungen einer nicht kommerzialisierten Medizin zu würdigen und neoliberalen Anwandlungen gegenüber misstrauisch zu bleiben.

Gerade der Vergleich Covid hüben und drüben gibt viel zu denken, und Snyder bietet dazu Anschauungsmaterial genug. Es liest sich wie eine subjektive Suada, doch jede Aussage ist in einem 16 Seiten langen Anhang belegt.

Timothy Snyder, "Die amerikanische Krankheit. Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital". Deutsch von Andreas Wirthensohn. 12,50 Euro / 158 Seiten. C.H. Beck, München 2020
Cover: C.H. Beck

Es ist das dritte Buch des US-Historikers, in dem er sich mit aktuellen Themen an eine allgemeine Leserschaft wendet. 2017 erschien On Tyranny, deutscher Untertitel Zwanzig Lektionen für den Widerstand, im Jahr darauf Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa, Amerika. Als Public Intellectual nimmt er jedes Mal entschieden Stellung, gegen die Entwicklungen in seiner Heimat, für einen historisch geschärften Blick auf die Gegenwart.

Frucht seiner Erfahrungen sind diesmal vier "Lektionen". Sie postulieren, dass Gesundheitsversorgung ein Menschenrecht ist; dass die Erneuerung bei den Kindern anfängt (von der Karenz bis zu Ausbildungsmöglichkeiten); dass "die Wahrheit uns frei machen" wird (aber nur, wenn wir sie erfahren – es geht um Gesundheitsinformationen und um die prekäre Situation des Journalismus); und dass Ärzte, nicht Manager aus dem "medizinisch-industriellen Komplex", bei Heilung und Pflege das Sagen haben sollten.

Kann Our Malady (so der Titel im Original) kuriert werden? "Wir haben jetzt die Wahl", schreibt Snyder letztlich optimistisch. Damit sei aber nicht nur der 3. November gemeint. Die Arbeit, sagt er, beginne dann erst. (Michael Freund, ALBUM, 31.10.2020)