Susan Sontag war eine enorm anregende Denkerin.

Foto: Penguin Press

Es gab einmal eine Zeit, da gab es elitäre, anspruchsvolle Denker und Dichterinnen, Philosophen und Großintellektuelle, deren Vornamen zu erwähnen schlichtweg überflüssig war. Man sagte nur: Sartre. Oder: Heidegger. Oder: Adorno. Oder: Beauvoir. Oder: Camus. Oder: Sontag. Und jede und jeder wusste, wer gemeint war und welches imposante Œuvre.

Und das liest man nun auch auf dem Schutzumschlag einer der monumentalsten Biografien der jüngeren Zeit. Sontag. Nur den Nachnamen. Dazu ein Foto. Und die etwas unbescheidene Ergänzung: "Die Biografie".

Susan Sontag wurde über Nacht zum Star. 1964 mit einem Essay, Anmerkungen zu Camp, und zwei Jahre später mit ihrem Buch Against Interpretation, deutscher Titel: Kunst und Antikunst. Sie war knapp über 30, sah stupend gut aus – und schien alles gelesen zu haben in Literatur und Philosophie, was es zu lesen gab. Und stellte Kreuz- und Querverbindungen zu allerneuesten Filmen her und zu Malerei und Pop- wie Populärkultur, die schier unerhört waren.

Wer außer ihr wagte es, die Gemälde Jasper Johns’ mit den Supremes zu verbinden, sensibel und überwältigend gebildet sich über Fotografien zu beugen und Bild und Metaphern zu analysieren, über Pornografie und Cioran und Canetti zu schreiben?

Benjamin Moser, "Sontag. Die Biografie". Übersetzt von Hainer Kober. 41,20 Euro / 928 Seiten. Penguin, München 2020

Der im holländischen Utrecht lebende Amerikaner Benjamin Moser, Autor einer ausgreifenden Biografie über die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector, hat die bis dato umfangreichste Susan-Sontag-Lebensbeschreibung geschrieben. Er zeichnet sie als zerrissen, unsicher bis zur Depression, als unglücklich Liebende einiger Männer und vieler, vieler Frauen, als lebenslang am Zwiespalt von Image, Bild und Lebenswirklichkeit Verzweifelnde, deren Ambitionsspektrum überlebensgroß war.

Denn spätestens in den 1980er-Jahren war Susan Sontag "Susan Sontag" geworden, eine ihre Person übersteigende Persona. Fatal und sich mit Anfang 50 zusehends verstärkend: ihr eklatanter Mangel an Empathie, bedingt durch ihre konfliktscheue und emotionsarme Mutter, die einst Unterstützung und jede Wärme verweigert hatte (Sontags Vater Jack Rosenblatt war schon 1938 verstorben). Das schlug sich in ihrer eigenen, lässlich vernachlässigenden, dann wieder erstickend intimen Erziehung ihres Sohnes David Rieff nieder, der 1952 zur Welt kam.

Überambitioniertes Leben

Moser, der enorm viel las und mit schwindelerregend vielen sprach, sich durch bisher ungedruckte Nachlassmaterialien pflügte und dabei durchweg angenehm lesbar schreibt, schildert vieles in dem übervollen, überhektischen, überambitionierten Leben der im Jänner 1933 geborenen Susan Sontag: ihren Aufstieg zum Ruhm, nachdem Kindheit und Jugend in Arizona und in Los Angeles antiprägend verliefen, ihre Beziehungen, ihr Verharren auf dem internationalen Literaturparnass inklusive weltweiter Ehrungen, Preise und Präsidentschaften und Übersetzungen, ihr enorm mutiges Engagement 1992 für das belagerte Sarajevo, ihren rasenden, unersättlichen Hunger nach Kultur, nach Neuem, nach immer wieder zündenden Anregungen. Und nach Liebe.

Und die entsetzlichen Zäsuren durch mehrere Krebserkrankungen, von denen die letzte, schlimmste und von Moser grausig detailliert geschilderte am 28. Dezember 2004 in den Tod mit 71 Jahren mündete.

Die enorm Produktive wollte sich immer wieder verwandeln. Als sie endlich, nach drei Jahrzehnten, mit einem Roman (Der Liebhaber des Vulkans) einen Bestseller geschrieben hatte, verwarf sie in irritierend hochfahrender Manier ihr früheres kulturkritisch-essayistisches Werk. In ihren zahlreichen Tagebüchern dagegen war sie entwaffnend hilflos, das Gegenteil von Arroganz, aber auch selbstsüchtig, selbstzentriert, dafür in vielen Liebesbeziehungen staunend unterwürfig.

Kleines Memoir

Sigrid Nunez, "Sempre Susan. Erinnerungen an Susan Sontag". Übersetzt von Anette Grube. 18,50 Euro / 144 Seiten. Aufbau, Berlin 2020

Dass nun zeitgleich Sigrid Nunez’ kleines Memoir über Susan Sontag auf Deutsch erscheint, ist ein schöner Glücksfall. Denn in überschaubarem Umfang entwirft Nunez ein sensibles Porträt.

Als 25-Jährige kam sie, Studienabsolventin und Schülerin der klugen Autorin, Literaturprofessorin und eminenten Stilistin Elizabeth Hardwick, auf Empfehlung der Redaktion der Zeitschrift New York Review of Books zu Sontag, als "Assistentin", wie es genannt wurde. Sie war für Ordnung zuständig, noch viel stärker als Sekretärin der überbordenden Korrespondenz.

Zugleich musste sie aber Sontags gesamtes Werk mental präsent haben. Sie verliebte sich in den Sohn, zog mit ein in die große Penthousewohnung mit schönem Panoramablick, die Sontag und ihr Sohn damals am Riverside Drive bewohnten. Nach rund anderthalb, emotional wechselhaften Jahren war die Beziehung vorbei.

Unleidlich unduldsam

Mehr als dreißig Jahre später begann sie, die ihren ersten Roman in den 1990er-Jahren herausbrachte und jüngst auch im deutschsprachigen Raum mit Der Freund bekannt wurde, ihre Erinnerungen aufzuschreiben.

Selbstredend ist das subjektiv. Nunez verschont sich selbst nicht. Sie erscheint als unsicher, direktionslos, sich ungewiss, was sie schreiben will, wie sie schreiben soll, wie sich ein Leben als Schreibende abzeichnen könnte. Deutlicher und eindringlicher als Moser zeichnet sie die vielredende Sontag als umgetriebene Umtreibende, die vor lauter Energie und Ambition, alles zu lesen, alles an Filmen zu sehen, alles zu wissen, richtig diszipliniert zum Schreiben kaum kam.

Und wenn, dann musste stets jemand in der Wohnung, in der Nähe sein. Was Sontag nicht ertrug, war Einsamkeit. Unleidlich unduldsam bis brutal beleidigend konnte sie ebenfalls sein, unvorhersehbar und tief verletzend. Sie selbst stufte sich als "trampelig" ein, was anderen, die sie vor den Kopf stieß, darunter nicht wenige ältere und alte Freunde, als dezente Untertreibung galt.

Blick auf eine bewunderte Frau

Nunez’ Blick auf Sontag ist der einer jungen Frau auf eine bewunderte Frau, die, obwohl nur 18 Jahre älter, eine globale Ikone war. Es werden körperliche Details eingesponnen, die Moser als Mann nicht in den Sinn kommen.

Auch das Charakterbild Joseph Brodskys, eine der größten Liebe Sontags – seinen Namen (der Herzkranke und Literaturnobelpreisträger von 1987 war schon Anfang 1996 mit 55 Jahren einem Infarkt erlegen) nannte sie neben dem ihrer Mutter beim Sterben als letzten –, seine Arroganz, seine Verspieltheit, sein Charme, sein fiependes Lachen, ist ausnehmend zart hingetuscht.

Wallfahrt zu Thomas Mann

Susan Sontag, "Wie wir jetzt leben". Erzählungen. Übersetzt von Kathrin Razum. 20,60 Euro / 128 Seiten.Hanser-Verlag, München 2020

Sontag selber schrieb einmal auch eine Erinnerung an eine Dichterbegegnung auf, eine Wallfahrt zu Thomas Mann, der Ende der 1940er-Jahre in Südkalifornien lebte, in einer modernistisch weißen Villa in Pacific Palisades, heute eine kulturelle Begegnungsstätte Deutschlands und ein Stipendiatenschreibort.

Vier Erzählungen sind nun, teils neu übersetzt, in einem Band zusammengefasst worden, darunter die vielleicht bekannteste ihrer gerade einmal 16 abgeschlossenen Storys, Wie wir jetzt leben von 1986. Und eben Wallfahrt aus dem Jahr 1987, ihren Bericht über ihren Besuch zusammen mit einem Freund bei Mann 40 Jahre zuvor.

Hilfreich ist, zuvor die Analyse Mosers gelesen zu haben, der die rapportierten Fakten nicht nur zurechtrückt – das Jahr, die begleitenden Freunde, die Anbahnung im Vorfeld –, sondern geradezu demontiert. Beschreibung (einer Beschreibung) (1984), Die Briefszene (1986) und Der Blick aus der Arche, Begleittext eines 1992 publizierten Bandes des Fotografen Richard Misrach, zeigen die stilistische, vor allem aber die formal experimentierende, dabei nicht immer ganz glücken wollende Bandbreite auf.

In Die Briefszene heißt es zu Beginn: "Lass mich anfangen". Und einige Sätze später: "Bremse mich nicht, merkst du denn nicht, dass ich kaum mehr zu halten bin?" Das war, in nuce, die furiose, furchtlose, noch heute enorm anregende Denkerin Susan Sontag. (Alexander Kluy, ALBUM, 2.11.2020)