"This is my town, out in the rust belt fields", trällert der US-amerikanische Singer-Songwriter Slaid Cleaves, sanfte Stimme, melancholische Akkorde, zu seiner Gitarre. "There was always a job, and the money was there, some say we got a little lazy, nobody seemed to care."

"Das war vor unserer Zeit, denn wir sind erst vor ein paar Jahren von Philadelphia nach Cleveland gezogen", sagt Heather Nelson. "Aber ja, wenn man sich umschaut, wie viele Gleise, Lagerhallen und Hafenanlagen es hier gibt, und dann erst die vielen schönen Brücken – da merkt man, wie fortschrittlich und wohlhabend diese Stadt früher gewesen sein muss."

Platz für Neues

Cleveland, Ohio. In unmittelbarer Nähe der Carter Bridge, die sich wie alle Eisenbrücken über den Cuyahoga River per Knopfdruck heben lässt, damit Schiffe mit Kohle, Stahl und Schotter passieren und in den Lake Erie hineinschippern können, beackert die 65-jährige Heather Nelson mit ihrem Mann Barry eine Urban-Gardening-Parzelle. "Eine großartige Brücke, nicht wahr? Wir sind fast jeden Tag hier, bauen Kohl, Kraut, Spinat, Zucchini und Okraschoten an. Manchmal, während wir arbeiten, schauen wir dabei zu, wie sich die Fahrbahn hebt und senkt. Ein wunderbares Spektakel!"

US-Metropolen wie Detroit oder Cleveland (Foto) verstecken sich nicht mehr hinter ihrem industriellen Erbe. Leere Fabrikhallen und rostige Stahlwerke werden für Kunst, Urban Garding oder handwerkliche Projekte genutzt.
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Warum sie sich ausgerechnet für Cleveland entschieden haben? Gerade jetzt, wo doch die ganze Gegend im Untergang begriffen ist? Cleveland war die fünfgrößte Stadt der USA, hatte in den 1950er-Jahren fast eine Million Einwohner, heute sind es nicht einmal 400.000. "Stimmt schon, damit ist ein Teil der kulturellen und wirtschaftlichen Identität weggebrochen", sagt Heather. "Aber jeder Tod macht auch Platz für Neues. Wir wohnen downtown, gehen zu Fuß in die Arbeit und haben genug Land, um uns mitten in der Stadt selbst mit Gemüse zu versorgen. Wo kann man das schon?"

Abgesang auf die Industrie

Der Song Rust Belt Fields, den der Country-Songwriter Slaid Cleaves mit seinem Kumpel Rod Picott vor knapp zehn Jahren geschrieben hat, handelt vom Untergang des prosperierenden Manufacturing Belts – des heutigen Rust Belt. Er erstreckt sich entlang der Großen Seen von Milwaukee und Chicago über Michigan, Indiana, Ohio, Pennsylvania und Upstate New York bis zu den Appalachen. Mit dem Einbruch der Stahl- und Kohleindustrie, mit dem Rückgang des Automobilsektors und nicht zuletzt durch die Auslagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer ist die Wirtschaft zum Erliegen gekommen.

Ein altes Stahlwerk im Osten von Pennsylvania
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Cleveland, Ohio. Genau hier wurde Donald Trump von den Republikanern vor vier Jahren zum Präsidentschaftskandidaten gekürt. Genau hier versprach Trump den vielen arbeitslosen Stahlarbeitern und Kohlehacklern in den Bergwerken, ihre Jobs zurückzubringen. "Wir werden amerikanischen Stahl wieder in das Rückgrat unseres Landes stecken", sagte Trump im Wahlkampf 2016.

Radikale Umfärbung

Michigan, Ohio und Pennsylvania, die unter Obama noch demokratisch eselsblau waren, färbten sich mit einem Schlag republikanisch elefantenrot. Sie waren das Zünglein an der Waage für Trumps Einzug ins Weiße Haus. Oder wie die Politikwissenschafterin Rana B. Khoury in ihrem Buch As Ohio Goes schreibt: "Wie Ohio wählt, so wählt die Nation."

Radler und Fußgänger überqueren die Roberto Clemente Brück, die über den Allegheny River in Pittsburgh führt.
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Aus den hochtrabenden Plänen, die alten Jobs in den Rust Belt zurückzubringen, ist bekanntlich nichts geworden. Zwar eröffnete Trump das eine oder andere Kohlebergwerk, zwar verhängte er Sonderzölle auf Stahl und Aluminium aus China und der EU, doch die Arbeitslosigkeit im Rust Belt blieb, vor Corona wohlgemerkt, unverändert hoch.

Schöpferische Kraft

"Drove into the ground, till your factory’s cold. Then they tear it all down, and the parts get sold." "Draußen in den ländlichen Regionen geht es mit der Wirtschaft bergab. Die Gräben zwischen den Trump-Fans und Biden-Anhängern werden immer tiefer", sagt Sarah Kabot. Die 42-Jährige arbeitet als freischaffende Konzeptkünstlerin und leitet die Zeichenwerkstatt am Cleveland Institute of Art: "In der Stadt ist es vergleichsweise großartig. Nach dem Zusammenbruch der Schwerindustrie hat sich Cleveland neu erfunden. Es gibt immer mehr Galerien, neue Lokale, coole Shops, Urban-Gardening-Projekte und eine steigende Sensibilität für Lebensqualität."

Die Schornstein eines alten Stahlwerks in Homestead, Pennsylvania, werden ins Szene gesetzt.
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"And I learned a little something, ’bout how things are, no one remembers your name, just for working hard." "Diese neue Energie im Rust Belt ist genau das, was mir Hoffnung gibt", sagt Jaclyn Strez. "Ja, klar, mit einem Job allein kommen die meisten nicht über die Runden, auch ich nicht. Aber die Chancen, die sich auftun, sind einzigartig. Der Rust Belt ist ein Epizentrum für Kreativität und schöpferische Kraft."

Maske oder nicht

Strez leitete einige Jahre lang den Kunstverein Detroit Contemporary, der in einem ehemaligen Supermarkt zu Hause war, gab dann aber auf, weil der Kampf um Sponsorengelder immer härter wurde. Heute wohnt sie in Dearborn, einem Vorort von Detroit, jobbt als Schauspielerin, Filmemacherin und Puppenspielerin in Schulen und Theatern.

"Es gibt billige Wohnungen, ausreichend Land zum Anbauen von Obst und Gemüse, neue Radwege durch die Stadt und eine Aufbruchstimmung, die irgendwie süchtig macht", sagt sie. Kurze Pause. Ein Räuspern. "Nur der 3. November, der macht mir noch Angst. Weil es diesmal nicht nur darum geht, dem einen Kandidaten seine Stimme zu geben, sondern auch darum, den anderen zu vernichten. Immerhin weiß man sofort, wer wen wählt. Man braucht nur schauen, ob jemand auf der Straße die Maske trägt oder nicht."

Lernen bei Ford

In der Blackstone Street in Detroit befindet sich der Brightmoor Makerspace. Im Inneren einer aufgelassenen Ford-Fabrikhalle gründete Nick Tobier, Kunstprofessor an der University of Michigan, eine Werkstatt. Und ja, es herrscht dort Maskenpflicht. Jugendliche und junge Erwachsene können sich an diesem Ort unter der Obhut von Studierenden der Universität auf einen handwerklichen Job vorbereiten. "

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Detroit
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Put all I have left, on a little black square. Risk it all like the big boys, like I don’t even care. "Die Zeit der großen Industrie ist aus und vorbei. Detroit wird nie wieder das sein, was es einmal war", sagt Nick. "Jetzt liegt es an uns, die Karten neu zu mischen. In einer Stadt, die pleite ist und keine Mittel hat, um Kultur und Bildung zu finanzieren, die aber über so viel Potenzial und ungenutzte Flächenressourcen verfügt – was liegt da näher, als sich auszutoben?

"This is my town"

Das Ausbildungsprogramm im Brightmoor Makerspace umfasst eine Tischlerei, Schlosserei, eine Fahrradwerkstatt, Urban Farming, die Herstellung von Speiseeis oder den Bau von Wasseraufbereitungssystemen. Aktuell startet ein Lehrgang, in dem die Kids lernen sollen, selbstständig ein Holzhaus zu planen und zu bauen. Für ein paar Hundert Dollar hat Nick das Nachbargrundstück auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgekauft. Hier sollen die hölzernen Selbstbauhäuser errichtet und als verlängertes Büro genutzt werden.

Das alte Detroit macht Platz für das neue.
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"Der wirtschaftliche Niedergang hat uns nicht umgebracht", sagt Nick, "und die Politik wird das auch nicht schaffen. Ich wage sogar, zu behaupten, dass wir Trump ein zweites Mal aushalten könnten, wenn wir es müssten. Das, was uns nächsten Dienstag aber unsere Zukunft kosten könnte, ist der Hass der Menschen. Noch nie zuvor waren Demokraten und Republikaner so gespalten wie diesmal. Von diesem schwelenden Hass im Rust Belt dürfen wir uns aber nicht anstecken lassen." "This is my town, out in the rust belt fields", hört man Singer-Songwriter Slaid Cleaves trällern. (Wojciech Czaja, 1.11.2020)