Bei allen Risiken, denen Besucher der Internationalen Raumstation (ISS) ausgesetzt sind, bleibt ihnen zumindest eine Sorge erspart: Die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus ist derzeit vermutlich nirgends, wo man Menschen treffen kann, so gering wie auf der ISS. Vor dem Start müssen Raumfahrer wochenlang in Quarantäne, durchlaufen unzählige Gesundheitschecks und werden heutzutage auch etliche Male auf Covid-19 getestet. So hat die derzeit aus zwei russischen Kosmonauten und einer US-amerikanischen Astronautin bestehende ISS-Crew nichts zu befürchten, wenn Mitte November Verstärkung von der Erde anrückt: Vier Astronauten sollen an Bord des neuen Raumschiffs Crew Dragon der privaten Raumfahrtfirma Space X dazustoßen.

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In durchschnittlich 400 Kilometer Höhe umkreist die Internationale Raumstation unseren Planeten. Von der Erde aus ist sie mit bloßem Auge als schnell vorbeiziehender Punkt sichtbar.

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Mit ihrer Ankunft ist dann die 64. Langzeitbesatzung der Raumstation komplett – und hat allen Grund zum Anstoßen: Am 2. November ist die Wohngemeinschaft in der Erdumlaufbahn seit zwanzig Jahren durchgängig bewohnt, da kam die erste Langzeitbesatzung, die am 31. Oktober ins All gestartet war, am Zielort an. Mit leichter Verspätung kann die Jubiläumscrew 20 Jahre später die größte Party feiern, die die ISS je gesehen hat. Sieben Raumfahrer – so voll war es auf der Raumstation noch nie. Platz genug gibt es, die ISS hat etwa das Innenvolumen eines Jumbojets, und der Raum lässt sich, der Mikrogravitation sei Dank, auch recht effektiv ausnutzen.

Überwundene und neue Spaltungen

Seine beispiellose Dimension erreichte das größte menschengemachte Objekt im All erst nach und nach. Das internationale Megaprojekt wurde erst mit dem Ende des Kalten Kriegs möglich, als die USA und Russland die Kooperation vertieften und ihre jeweiligen Pläne zum Bau eigener Großstationen zugunsten eines Gemeinschaftsprojekts aufgaben. Auch die Europäische Weltraumorganisation (Esa) sowie die Raumfahrtagenturen Kanadas (CSA) und Japans (Jaxa) waren von Anfang an dabei. Eine Beteiligung Chinas scheitert hingegen bis heute am Veto der USA.

Ein Hurrikan von der ISS aus gesehen.
Foto: Nasa

Mehr als 40 Transportflüge im Lauf von zwölf Jahren waren nötig, um alle Bauteile der ISS ins All zu schaffen und die Station zu dem weit verzweigten Forschungslabor zu machen, das sie heute ist. Der Startschuss erfolgte 1998, als eine russische Proton-Trägerrakete mit dem Modul Sarja, auf Deutsch "Morgenröte", das erste Element in den Erdorbit hievte. Kurz darauf erfolgte ein Andockmanöver von hohem Symbolwert: Das US-amerikanische Unity-Modul wurde an Sarja gekoppelt und schuf die bis heute bestehende Verbindung des russischen Stationsteils mit dem amerikanischen Segment der ISS.

Installateure im All

Als Nächstes wurde das Wohnmodul Swesda angegliedert, darin konnte sich dann schon die Expedition eins einrichten, die erste Langzeitbesatzung der Raumstation: Der Amerikaner William Shepherd und seine russischen Kollegen Sergei Krikaljow und Juri Gidsenko erreichten die ISS am 2. November 2000 und waren für die nächsten 136 Tage hauptsächlich damit beschäftigt, die Station bewohnbar zu machen: Ihre Arbeiten reichten von der Aktivierung eines Systems zur Atemluftaufbereitung über den Aufbau der Computer-Infrastruktur bis zur Installation der Küche und der ersten Bordtoilette.

Die Mitglieder der Expedition 1 von links: Juri Gidsenko, William Shepherd und Sergei Krikaljow.
Foto: Nasa

Heute steht den Bewohnern der Raumstation auch ein zweites stilles Örtchen zur nicht ganz unkomplizierten Nutzung zur Verfügung – und eine enorme Forschungsinfrastruktur: Die ISS umfasst sechs Forschungslabore, zwei Wohnmodule, eine Beobachtungskuppel, Stauräume, Verbindungsknoten, Andockvorrichtungen und Roboterarme. Die Station, die unseren Planeten in einer durchschnittlichen Höhe von 400 Kilometern mit rund 28.000 km/h umkreist, kommt auf eine Masse von 420 Tonnen. Die Größe hat ihren Preis: Mehr als 100 Milliarden Euro hat der Bau der Raumstation bislang gekostet.

Wissenschaft im Orbit

Bei der Esa beteiligen sich nicht alle 22 Mitgliedsstaaten am ISS-Programm. Beim Betrieb zahlen nur zwölf europäische Länder mit, Österreich ist nicht darunter. Kosten für die wissenschaftliche Nutzung der Raumstation trägt Österreich aber im Rahmen seines aktuell zwei Millionen Euro umfassenden Beitrags für das Explorationsrahmenprogramm in geringem Maße mit. Österreichs Gesamtbeitrag zum Esa-Budget 2020, der vom Klimaschutzministerium finanziert wird, beläuft sich auf 51,2 Millionen Euro.

Nasa-Astronautin Christina Koch beim ersten rein weiblich besetzten Außeneinsatz am 18. Oktober 2019.
Foto: Nasa

Den beträchtlichen Ausgaben für Bau und Betrieb der Station stehen freilich zahlreiche Forschungsergebnisse und technologische Innovationen gegenüber, von denen wir auch auf der Erde profitieren. Mehr als 2.800 wissenschaftliche Experimente wurden auf der ISS bisher durchgeführt, inhaltlich reichen sie von plasmaphysikalischen Studien über die Erprobung neuer Materialien in der Schwerelosigkeit bis zum Anbau von Weltraumsalat.

Medizinisches Labor

Besonders relevant für Erdenbewohner sind die medizinischen Untersuchungen, die die ISS-Crew selbst zum Gegenstand haben: Der Aufenthalt in der Schwerelosigkeit bringt eine Vielzahl von physiologischen Folgen mit sich, die nicht nur Raumfahrtmediziner interessieren. Denn die Dekonditionierung, die bei Astronauten im All schon nach kürzester Zeit einsetzt, ähnelt in vielerlei Hinsicht den natürlichen Alterungsprozessen des Menschen. Es kommt zum Abbau von Muskelmasse und Knochen, Koordinationsprobleme und Sehstörungen treten auf, das Herz-Kreislauf-System bildet sich zurück, und das Immunsystem wird schwächer. Die Strahlenbelastung führt zudem zu Zellschäden und erhöht das Risiko für Krebserkrankungen.

Karen Nyberg absolviert eine Augenspiegelung auf der Raumstation. Viele Astronauten erleiden Sehverlust im All – ein möglicher Zusammenhang mit Hirnschwellungen wird diskutiert.
Foto: Nasa

"Man kann die Umgebung auf der ISS zum Beispiel nutzen, um die Aktivierung, Deaktivierung und Steuerung unseres Immunsystems zu erforschen", sagt Thomas Reiter zum STANDARD. Der ehemalige deutsche Esa-Astronaut war selbst 2006 für ein halbes Jahr auf der Raumstation. Später war er bei der Esa für den europäischen Beitrag zur ISS zuständig und koordiniert heute die Zusammenarbeit mit den Raumfahrtagenturen. "In den Astronautenstudien wurde bereits ein bestimmtes Protein identifiziert, dass bei der Aktivierung oder Dämpfung des Immunsystems eine ganz zentrale Rolle spielt. Das Protein befindet sich inzwischen in der klinischen Erprobung, um Autoimmunerkrankungen abzumildern."

Getrennte Zwillinge

Ein Meilenstein für die medizinische Forschung war auch eine bisher einzigartige Zwillingsstudie der Nasa: Der Astronaut Scott Kelly verbrachte von März 2015 bis März 2016 insgesamt 340 Tage durchgängig im Weltraum, während sein eineiiger Zwillingsbruder Mark Kelly, ebenfalls Astronaut, auf der Erde blieb. Der Vergleich ihrer physiologischen Daten brachte eine lange Reihe von Veränderungen ans Licht, die nur bei Scott im Weltraum aufgetreten waren und zum Teil auch nach seiner Rückkehr zur Erde fortbestanden.

Die Astronauten-Zwillinge Mark (links) und Scott Kelly ermöglichten eine einzigartige Studie: Scott verbrachte ein Jahr im All, Mark blieb zu Hause. Die physiologischen Vergleichsdaten sind aufschlussreich.
Foto: Nasa

Neben schon lange bekannten Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf Knochen und Muskeln entwickelte sich etwa die Genaktivität bei Scott Kelly anders als bei seinem Zwillingsbruder, auch sein Immunsystem und die mikrobielle Zusammensetzung im Darm änderten sich. Dank dieser Daten haben Forscher neue Ansatzpunkte, um die Funktionsweise des Körpers besser zu verstehen und nach Therapiemöglichkeiten zu suchen.

In jüngster Zeit machte die ISS allerdings weniger mit wissenschaftlichen Erkenntnissen Schlagzeilen als mit technischen Gebrechen. So wurde heuer wochenlang nach einem Sauerstoffleck in der Außenhülle der Raumstation gesucht, ehe es Mitte Oktober endlich lokalisiert werden konnte. Zudem gab es Schwierigkeiten mit einem System zur Sauerstoffherstellung, einer Toilette und einem Ofen in der Bordküche. Alle Probleme konnten in der Zwischenzeit wieder behoben werden, doch sind das schon besorgniserregende Alterserscheinungen der Station?

Verlängerung anzunehmen

Reiter sieht keinen Grund zur Beunruhigung. "Das sind Ermüdungseffekte. Bei Bauteilen, die mechanisch beansprucht werden und auch thermischen Zyklen unterliegen, ist das völlig normal. Diese Geräte laufen für viele Jahre und kommen halt irgendwann an den Punkt, wo sie repariert oder ersetzt werden müssen." Gesichert ist der Betrieb bis 2024. Analysen der Esa und ihrer Partneragenturen würden aber zeigen, dass die ISS in sehr gutem Zustand sei, so Reiter. "Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass wir sie bis mindestens 2028, eher sogar bis 2030, nutzen können. Das ist natürlich die technisch-programmatische Seite, da muss noch das Geld mit auf den Tisch kommen." Angesichts der enormen Investitionen, die bereits getätigt wurden, gehe er von einer Weiterfinanzierung aus.

Bis die ISS eines Tages in der Erdatmosphäre verglühen wird, sind noch die Ergebnisse vieler Studien zu erwarten. Manche davon kommen vielleicht auch WG-Partys im Weltraum zugute: Seit dem Frühjahr wird getestet, wie Gerste in der Schwerelosigkeit gemälzt werden kann – und ob sich damit Bier brauen ließe. (David Rennert, 31.10.2020)