Bereits auf dem an sich überschaubaren Schachbrett kann exponentielles Wachstum zu gigantischen Zahlen führen.

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Jenen Leserinnen und Lesern, die an der ziemlich weit verbreiteten Volkskrankheit Mathephobie leiden, sei dies Warnung und Trost zugleich: Wir beginnen mit einer leicht didaktisch anmutenden Formulierung, die allerdings – versprochen – ganz ohne X, Y und Pi auskommt und bald wieder den Weg in sanftere Sprachgefilde freigeben wird. Also: Augen auf und durch.

Beim exponentiellen Wachstum vervielfacht sich eine bestimmte Größe, zum Beispiel die Zahl von Corona-Infizierten, in einem bestimmten Zeitraum um einen bestimmten Faktor. Anders als beim linearen Wachstum, bei dem pro Zeiteinheit stets dieselbe Zahl an Fällen hinzukäme, erfordert die Berechnung des exponentiellen Wachstums nicht die Kunst des Addierens, sondern die des Multiplizierens. Entsprechend ist beim Aufzeichnen des Ganzen die Kunst der Kurve gefragt – und nicht bloß die der geraden Linie.

Die berühmte R-Zahl

Jetzt ist es natürlich nicht so, dass sich die Realität einer Pandemie an die Vorgaben statistischer Definitionen halten würde. Der Faktor, um den sich die Zahl positiver Tests vervielfacht, ist heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein anderer als gestern, und er wird morgen anders sein als heute. Kommt ganz auf die berühmte R-Zahl an, also darauf, wie viele andere Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt. Zudem gibt es glücklicherweise jeden Tag geheilte Menschen – und leider gibt es jeden Tag Verstorbene.

Insgesamt aber gilt: Dort, wo exponentielles Wachstum herrscht, gerät die Situation rasch außer Kontrolle. Ein Lied davon singen kann der sagenumwobene indische Herrscher Shihram, der sein Volk geknechtet und sein Land heruntergewirtschaftet haben soll.

Die Schachbrettaufgabe

Um ihm vor Augen zu führen, dass selbst ein König ohne seine Untertanen nicht viel wert ist, soll ein gewisser Sissa ibn Dahir das Schachspiel erfunden haben. Als Lohn wünschte er sich vom nunmehr geläuterten Shihram Weizen: ein Korn auf das erste Feld des Schachbretts, zwei auf das zweite, vier auf das dritte, acht auf das vierte und so weiter. Wie bescheiden, dachte Shihram und sagte zu.

Doch bei der Vervielfachung um den Faktor zwei wäre die Zahl der Körner auf dem letzten Feld 19-stellig – und für die Gesamtmenge des Weizens auf dem Brett bräuchte man hunderte weltweite Jahresernten. Hätte der vermutlich mathephobe Herrscher das gleich bedacht, es wäre ihm viel Kopfzerbrechen erspart geblieben. (Gerald Schubert, 30.10.2020)