Marlene Streeruwitz, geboren in Baden bei Wien, zählt zu den markantesten Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur. Sie lebt in Wien, London und New York.

Foto: Heribert Corn

Was kann bleiben, was soll weg? Debatten über Erinnerungskultur sind der Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, die ihr Werk stets nach antisexistischen und antirassistischen Motiven ausgerichtet hat, wichtig. Zuletzt engagierte sie sich mit einer Rede im Protest gegen das Karl-Lueger-Denkmal in Wien. Nicht das einzige Relikt aus alter Zeit, das sie gerne überwunden sehen würde.

STANDARD: Was sollte denn mit dem Karl-Lueger-Denkmal passieren?

Streeruwitz: Das Denkmal gehört weg, die Diskussion über Lueger gehört her. Wie das mit allen Denkmälern der Fall sein sollte. Lueger hat mit seinem Antisemitismus dazu beigetragen, dass Hitler sich auf ihn beziehen kann und dass aus dem wirtschaftlichen der rassische Antisemitismus werden konnte. Darauf muss man nun wirklich nicht stolz sein. Alle diese Siegesdenkmäler aus dem 19. Jahrhundert sollten befragt werden. Diese Objekte sind unglaublich starke Zeichen der Vergangenheit. Wir sollten mindestens so stark aus der Gegenwart Fragen dazu stellen können.

STANDARD: Fragen stellen hieße, es zu kontextualisieren oder ins Museum zu verräumen. Sie würden es aber lieber einschmelzen?

Streeruwitz: Nein. Oder doch. Es sollte natürlich darüber geredet werden, welche Bedeutung Lueger hatte. Dass er etwa am Beginn der Massenparteien stand, dass er der Erste war, der in der Sprache der Bevölkerung politische Reden gehalten hat, dass er vom Kaiser keine Bestätigung bekommen hat. Wie er sich gegen die Liberalen durchsetzen musste usw. Aber es braucht doch wirklich kein Denkmal dafür, dass einer eine Hochquellwasserleitung gemacht hat. Das ist der Job eines Bürgermeisters.

STANDARD: Sie haben auch bei anderen Themen schon öfter eine komplette Tilgung gefordert. Zum Beispiel würden Sie die Strauß-Operette "Der Zigeunerbaron" nicht mehr aufführen. Die sogenannten "Zigeuner" werden darin eigentlich positiv dargestellt – muss man das Werk wirklich der Begrifflichkeit wegen verbannen?

Streeruwitz: Also ich glaube nicht, dass die positive Behandlung im Zigeunerbaron den Roma und Sinti auch nur irgendwie gegen die Problematik hilft, dass sie auf der Straße rassistisch belästigt werden, wie das berichtet wird. Die Operette ist ein Archiv des Sexismus, Rassismus und Antisemitismus, und ich bin dafür, dass sie einmal für zwanzig Jahre in die Lade sollte, und dann schauen wir, was davon übrigbleibt. Übrigens könnte ich auch Die lustige Witwe dazulegen und die männerfantastischen Frauenbilder darin. Unterhaltung ist immer falsch, wenn sie dem Publikum chauvinistische Entlastung bietet.

STANDARD: Musikliebhaber würden entgegnen, der "Zigeunerbaron" gehörte allein der Musik wegen bewahrt.

Streeruwitz: Ich bin sehr froh, dass es in der Musikologie mittlerweile Forschung gibt, die sehr wohl auf den Gehalt der musikalisch vermittelten Ideologie hinweist und wie musikalische Unterhaltung eben Unterhaltung ist und was die Musik da mitgehört leisten kann.

STANDARD: Die Wiener Volksoper hat den "Zigeunerbaron" erst heuer wieder auf den Spielplan gesetzt und sich vorab gegen Proteste abgesichert. Es gab einordnende Texte zum Thema und eine Zusammenarbeit mit offiziellen Vertretern der Roma und Sinti. Ist das nicht die sinnvollere Handhabe, weil man aus problematischen Werken auch etwas lernen kann?

Streeruwitz: Nein, ist es nicht. Denn es ändert nichts an dem im Verborgenen angelegten rassistischen Inhalt, der schon darin liegt, diese Bevölkerungsgruppe überhaupt als Gegenstand einer lustigen Fidelei heranzuziehen. Reparaturen an dem Werk werden nichts ändern. Das ist genau dasselbe, was mit der Naziideologie passiert ist.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Streeruwitz: Es gab nie eine Kulturrevolution, die sagte, wir wollen es ab jetzt ganz anders haben. Wenn ich das Parteiprogramm der FPÖ lese, lese ich noch immer die gleichen alten Phrasen, nicht einmal stark verändert. Es gibt keine Heilung in diesen Dingen. Sie können kein geheilter Rassist sein, Sie können nur Antirassist werden. Das Festhalten an der österreichischen Kitschkultur ist eines der Mittel, um all das rechte Gedankengut am Leben zu erhalten.

STANDARD: Aus den USA ist der Begriff der "Cancel-Culture" bei uns angelangt. Er beschreibt die Verhinderung oder sogar Zerstörung kultureller Werke, die als diskriminierend aufgefasst werden könnten oder den Handelnden nicht ins Weltbild passen. In den USA gab es zuletzt Kritik daran aus dem linksliberalen Lager: In einem offenen Brief von 150 AutorInnen und WissenschaftlerInnen, darunter etwa Daniel Kehlmann oder Margaret Atwood, wurde eine Verengung des Diskurses durch Cancel-Culture beklagt. Wie nehmen Sie diese Debatte wahr?

Streeruwitz: Es findet eine Verhärtung und Brutalisierung des Umgangs miteinander statt. Wir haben das hier in Österreich genauso, wenn Identitäre Theateraufführungen stören. In den USA marschieren diese Kräfte gegen Black Lives Matter mit der Waffe auf. Wenn die Verhältnisse dahin kommen, dass Personen sich derart gefährdet sehen, dass sie nur noch in Gewalt gegen die anderen einen Ausweg sehen, dann ist demokratisches Sprechen nicht mehr möglich. Auf der anderen Seite gibt es aber demokratische Entwicklungen wie die Frage der Erweiterung der Geschlechterdefinitionen, die überkommene Normen umwerfen.

Es bleibt nichts anderes übrig, als jeden dieser Vorfälle zu untersuchen, ob es darum geht, demokratisches Sprechen zu verhindern oder überhaupt herzustellen. Insgesamt geht ja die Kultur der TV-Anstalten als wichtigste Quelle der Information zu Ende. Dass Trump über Twitter regiert, ist nur ein Beispiel.

STANDARD: Die Briefunterzeichner wandten sich aber auch gegen eine überbordende "Cancel-Culture" von links. Sehen Sie die auch?

Streeruwitz: Also in Österreich sehe ich das gar nicht. In den USA zum Teil ja, da gibt es ein breites Spektrum. Aber da geht es auch immer um Zuspitzungen, die nur aus dem Lokalen heraus verständlich sind. Es ist prinzipiell ratsam, Cancel-Culture, bei der es auch oft um medialen Aufruhr und PR geht, skeptisch gegenüberzustehen. Claus Peymann und Jörg Haider damals in den 1980er-Jahren waren Cancel-Culture. Die haben sich gegenseitig hochgespielt über die Kronen Zeitung.

STANDARD: Wenn Sie für eine Wegschaffung des Lueger-Denkmals demonstrieren und die Identitären eine Gegenaktion starten, ist das nicht dasselbe Spiel?

Streeruwitz: Nein, denn ich bin nur eine Stimme, die für etwas eintritt, wofür sie gute Argumente liefern kann. Dass dieser Stimme dann mit Aggressionen begegnet wird, ist Strategie. Aggression wird aufgebaut, um die Argumente emotional wegschieben zu können. Dann muss man – und ich sage absichtlich "man" – sich nicht mehr darum kümmern.

STANDARD: In Internetpostings wird Ihnen in puncto historischer Sensibilität teilweise Doppelmoral vorgeworfen: 2015 haben Sie den Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz angenommen, obwohl der Dichter Nabl als Vertreter der völkischen Bewegung NS-Profiteur war. Nun liest sich die Liste der Preisträger wie ein Who’s who der Literatur, aber wie erklären Sie die Annahme des Preises Ihren Kritikern?

Streeruwitz: Die Uni Graz hat seinerzeit ein Gutachten bei Zeithistorikern in Auftrag gegeben, die eine Namensänderung für nicht notwendig gehalten haben. Aber Sie haben recht, dieser Frage sollte ich mich stellen, wenn ich doch so genau sein will. Ich werde das an Graz weitergeben und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen. Wir sind alle in dieser Kultur der Weiterbetätigung eingesponnen. Und dann zeigt sich auch die Dimension. Wenn der Autor Nabl heute entarisiert werden muss, um wie viel mehr muss dann die große politische Praxis des Antisemitismus weiterhin in Gegenwart und Vergangenheit bekämpft werden. Alles spricht dafür, gegen diese Denkmäler zu sein.

STANDARD: Sie haben zuletzt einen Covid-19-Roman verfasst. Bei der Pandemiebekämpfung haben Sie der türkis-grünen Bundesregierung Angstmache vorgeworfen. Jetzt stehen wir vor einem neuerlichen Lockdown. Gehen Ihnen die Maßnahmen zu weit?

Streeruwitz: Zu den Maßnahmen kann ich nichts sagen. Ich hoffe, dass wir in einem halben Jahr sehen können, was war richtig, was ist falsch. Es gab einen kurzen Augenblick, wo wir sehr solidarisch in unseren Wohnung gesessen sind. Das war auch ein schöner Moment. Aber dann hat die Regierung mit Angstmache agiert und da ist ein Vertrauensverlust passiert. Außerdem hätte ich lieber häufiger eine Fachperson sprechen gesehen und nicht immer den Kanzler. Das aber ist wieder unsere katholische Kultur, in der immer Exegese stattfindet: Der Kanzler lässt sich von Fachleuten eine Bibelstelle vorlesen, dann legt er sie für sich aus und erzählt sie uns als neue Wahrheit.

STANDARD: Funktioniert so nicht schlichtweg Politik?

Streeruwitz: Sollte sie aber nicht. (Stefan Weiss, 1.11.2020)