So anonym lebt es sich im Wiener Schauspielhaus in der postmigrantischen Gesellschaft. Im Bild: ein menschliches "Narrativ".

Foto: Matthias Heschl

Die Einrichtung heutiger, postdramatischer Tragödienschauplätze fällt offenbar in die Zuständigkeit von Möbelmärkten: Die roten Reader’s-Digest-Bände bilden dabei ebenso Attrappen des Wohlstands wie putzige, dringend der Politur bedürftige Glasfiguren in der Vitrine. In dieser arg künstlichen Parodie auf das, was die angepassten Bürger früher einmal ihre gute Stube nannten, wird nicht mehr gelebt, kaum mehr geatmet, getobt oder fest an realen Haaren gerissen (Bühne, Video: Lili Anschütz).

Ewelina Benbeneks Stück "Tragödienbastard" wird im Wiener Schauspielhaus von keinen Menschen, sondern von Narrativen bewohnt. Die Erzählstimmen der gelernten Kulturwissenschafterin flitzen zunächst einmal als Laufschrift über die Wand. Oder sie hallen geschäftig aus dem Off, während drei "reale" Tragödienbastardkinder sich hinter androgynen Latexmasken verschanzt halten. Ihr Utensil ist der feuchte Lappen. Zärtlich wird die Zimmerpflanze besprüht, während parallel dazu die Stimmen postmigrantischer junger Frauen am Fett ihrer Marginalisierung würgen.

Zu erkennen geben sich diese Unzufriedenen als Menschen eigenen Rechts. Sie stehen permanent unter Anpassungsdruck und wurden – der Preis ihrer reibungslosen Integration! – um die Authentizität eines eigenständigen, von den Eltern an sie vermachten Idioms geprellt.

Gerede über Leistung und Erfolg

Die sexuelle Identität, das ganze Gerede über Leistung und Erfolg: In Benbeneks diskursiv hoch aufgeladenem Erfahrungsbericht entsteht ein Skizzenbuch der alltäglichen Erniedrigungen. Inhalte werden nur ihrem ideologischen (Rede-)Gehalt nach verhandelt. Irgendwo, fein versteckt in den Plappermustern dieses auf Basis von sehr viel Proseminarwissen gedrechselten Elaborats, liegt der neuralgische Punkt: Ab wann schlägt Empfindsamkeit um in den postmigrantischen Schrei nach Begehrtwerden und Anerkennung?

Regisseur Florian Fischer hat das Lager seiner Uraufführungsinszenierung in einem der hoch artifiziellen, postdramatischen Siedlungsgebiete von Susanne Kennedy aufgeschlagen. Die drei Schauspielerinnen exponieren unerhört präzise den Umgang mit Narrativen. Sie inszenieren sich als "letzte" ihrer Gattung (weibliche Spezies) und schlagen allen vorschnellen, heteronormativen Zuschreibungen grinsend ein Schnippchen.

Noch der Auftritt in der prunkenden polnischen Volkstracht (Clara Liepsch) demonstriert Loslösung: In diesem formschönen, kleinen Wort-Oratorium ist sich jede selbst die nächste. Das Ziel lautet, das Wort "Migrantenfotze" seiner schimpflichen Dimension zu berauben. Das "Urteil" der Diskriminierenden anzunehmen, um es gegen seine Urheber zu verkehren. Wieder einmal beweist das Theater sich als sehr heutiger Hort des Widerstands: Wir quasseln, bis den Illiberalen endgültig der Saft ausgeht. Tolle Produktion, der man ein reges postpandemisches Leben wünscht. (Ronald Pohl, 1.11.2020)